Ein Gespräch über das Projekt "Brückenbauer:innen für die psychische Gesundheit von Geflüchteten"

Dr. med. Fana Asefaw ist Fachärztin Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und ärztliche Leiterin des Projektes  „Brückenbauer:innen für die psychische Gesundheit von Geflüchteten“ des  National Coalition Building Instituts (NCBI). Im Interview erzählt sie, weshalb das Projekt wichtig ist und welche entscheidende Rolle die sogenannten „Brückenbauer:innen“ dabei einnehmen.

Frau Asefaw, Sie haben zusammen mit dem NCBI das Projekt “Brückenbauer:innen für die psychische Gesundheit von Geflüchteten” entwickelt. Worum geht es in dem Projekt?

Viele geflüchtete Menschen erleben in ihrem Herkunftsland oder auf der Flucht traumatische Erlebnisse. Und die Probleme werden in der Schweiz oft nicht weniger: Sie sind sehr lange mit unsicherem Aslystatus, oder unter prekären Lebensbedingungen untergebracht, haben keine Privatsphäre in den Asylunterkünften und oft keine sichere Zukunftsperspektive. Das führt zu hoher psychosozialer Belastung, bei deren Bewältigung Betroffene auf Unterstützung angewiesen sind. Auf die Kinder hat diese Situation sehr negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung.

Obwohl es in der Schweiz viele sehr gute Angebote und Beratungsstellen gibt zu gesundheitlichen und psychosozialen Anliegen, erreichen diese oft nicht die geflüchteten Menschen. Das liegt oft an sprachlichen und kulturellen Barrieren. In vielen Ländern holen sich die Menschen vor allem Unterstützung bei der Familie und bei Verwandten. Die Hilfe ist nicht so institutionalisiert wie hier in der Schweiz. Daher bestehen grosse Hürden und Unsicherheiten bei geflüchteten Menschen bei der Nutzung dieser Angebote.

Hier setzt das Projekt an. Brückenbauer:innen sind selbst geflüchtete Menschen, die aus dem gleichen Kulturkreis stammen und dieselbe Sprache sprechen. Oftmals haben sie selbst viel Leid erfahren, aber sie kennen sich mit der Situation in der Schweiz aus und werden in unserem Projekt für ihre Aufgabe als Brückenbauer:in ausgebildet. Das alles macht sie glaubwürdig für die Zielgruppe der geflüchteten Menschen. Sie holen sie da ab, wo sie sind und bauen eine Brücke zu den Fachstellen in der Schweiz.

Gibt es Themenbereiche, bei denen die Rolle der Brückenbauer:innen besonders essentiell ist?

Psychische Belastungen sind immer ein Thema. Aber niemand kommt zu uns Fachpersonen und sagt: Ich habe eine Psychose. Wir brauchen zuerst einen Zugang zu den geflüchteten Menschen und müssen klären, worum es im einzelnen Fall geht. Zeigen sich die Probleme vor allem in der Schule, bei der Integration, in der Familie? Erleben die Personen in einem dieser Bereiche besondere Belastungen? Wo wirkt sich die psychische Verfassung besonders deutlich aus? Diese Analyse findet durch die Gespräche mit den Brückenbauer:innen und den Therapeut:nnen statt.

Alle Menschen haben ein Recht auf die richtige Behandlung ihrer Problematiken. Aber wir wissen, dass gerade medizinische Themen sowohl geflüchtete Menschen als auch Fachpersonen vor grosse Herausforderungen stellen. Entweder geben die Menschen leichtfertig ihr Einverständnis auch für stark invasive Eingriffe oder, im Gegenteil, sie nehmen die verordneten Medikamente nicht, weil sie nicht verstehen, worum es geht. Sie haben kein epistemisches Vertrauen. Das heisst, sie können nicht darauf vertrauen, dass die Empfehlung der Fachperson wirklich zu ihren Bedürfnissen passt. Auch hierbei helfen die Brückenbauer:innen, indem sie Entscheide von Fachpersonen in einer verständlichen Weise erklären.

Es braucht jedoch zuerst diese Brücke, erst dann können Fachpersonen wirkungsvoll agieren. Geflüchtete müssen – wie alle Adressat:innen – einen Sinn in den vorgeschlagenen Massnahmen sehen, so können ihre persönlichen Bewältigungs-Ressourcen schneller mobilisiert werden.

Können Sie anhand eines Beispiels erläutern, in welchen Situationen Brückenbauer:innen involviert werden?

Gerne schildere ich einen realen Fall. Eine junge eritreische Frau, im neunten Monat schwanger, kam durch Familienzusammenführung von Äthiopien in die Schweiz zu ihrem Ehemann. Die Schwangerschaft verlief problemlos und in den Kontrollen in Äthiopien war alles gut. Drei Tage nach ihrer Ankunft in der Schweiz musste sie im Spital in der Schweiz notoperiert werden und bekam ihr Kind per Kaiserschnitt. Sie verlor viel Blut und erlitt Infektionen und Komplikationen. Nachdem sie nach einiger Zeit zu sich kam und erkannte, dass sie im Spital war mit vielen medizinischen Geräte, war sie völlig überfordert. Sie verstand die Sprache nicht und konnte die Situation nicht einordnen, denn sie hatte sich bisher gesund gewähnt. Zuerst dachte sie, sie hätte das Kind verloren und brach zusammen.

Ab hier wird der Fallverlauf tragisch: Denn die Fachpersonen schätzten die junge Frau als instabil ein aufgrund ihrer – verständlichen – Reaktion. Auch der telefonische Dolmetscherdienst konnte nicht weiterhelfen, denn die Frau war ganz ausser sich, da sie ihr Kind suchte. Daraufhin wurde ihr Neugeborenes in einem Heim untergebracht und umsorgt. Das machte die Frau noch verzweifelter, was wiederum dazu führte, dass sie als auffällig deklariert wurde und ihr Kind nur jeweils kurz sehen durfte. So wurden das Bonding und Stillen stark erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht. Später wurde sie zusammen mit dem Kind in eine Mutter-Kind-Einrichtung eingewiesen, was für sie und ihren Mann unverständlich war. Beide schätzten sich als fähig ein, ein Familienleben zu führen.

Als Psychiaterin sollte ich nun die psychischen Auffälligkeiten dieser jungen Mutter klären. Ich musste feststellen, dass sie erst durch die medizinischen Eingriffe ohne ihre Zustimmung und die Kindeswegnahme hier in der Schweiz traumatisiert wurde. Die junge Frau war ansonsten vollkommen in der Lage, für sich und ihr Kind zu schauen.

Wir haben deshalb eine Brückenbauerin involviert, die viel mit der Familie gesprochen und die Entscheide der Fachpersonen in einer für sie verständlichen Weise erklärt hat. Zudem haben wir ein Treffen mit involvierten Fachpersonen organisiert, wo die Brückenbauerin die Perspektive und das Verhalten der jungen Eltern erklären konnte.

Durch diese „Brücke“ konnte die junge Frau stabilisiert werden. Mittlerweile lebt die Familie gemeinsam in einer Wohnung, die junge Mutter hat die hiesige Sprache bereits gut gelernt und ist in viele Integrationsprojekte involviert. In der Therapie haben wir die traumatischen Erlebnisse bearbeiten und Missverständnisse mit Fachpersonen aufklären können. Dadurch konnte das Ehepaar auch wieder mit dem Beistand des Kindes, und den anderen Fachpersonen in eine gute Kooperation kommen.

Wie kommen Klient:innen zu diesem Angebot und welche Voraussetzungen müssen sie mitbringen?

Oft werden die Menschen aus einer Überforderung des Systems heraus im Projekt angemeldet, meist durch Soziale Dienste oder Organisationen des Asylwesens. Es gibt Schwierigkeiten in den Asylunterkünften oder in den Schulen mit den schulpflichtigen Kindern. Da die psychiatrische Behandlung Teil der Krankenkassen-Grundversicherung ist, steht unser Angebot grundsätzlich allen geflüchteten Menschen unabhängig von ihrem Asylstatus oder ihrer Wohnsituation offen. Es braucht jedoch eine zusätzliche Stelle, z.B. den Sozialdienst der Gemeinde, die die Arbeit der Brückenbauer:innen finanziert. Mittlerweile unterstützen sieben Kantone in der Deutschschweiz das Projekt, so dass diese Finanzierung sichergestellt ist.

In den meisten Kantonen werden bereits Interkulturelle Vermittler:innen einbezogen. Weshalb braucht es zusätzlich Brückenbauer:innen?

Dolmetschende machen eine strikte Wort-zu-Wort-Übersetzung. Und interkulturelle Vermittler:innen können sich zwar kulturell einfühlen und sprechen die gleiche Sprache, aber sie haben nicht die Ausbildung, die die Brückenbauer:innen im Projekt erhalten. Es ist ein zentrales Element des Projektes, dass die mitwirkenden Brückenbauer:innen intensiv geschult werden zu fachlichen Themen wie Trauma und Suizidalität und methodischen Kompetenzen wie dem professionellen Umgang mit Nähe und Distanz. Die Brückenbauer:innen arbeiten professionell und interkulturell, aber nicht therapeutisch.

In der Schweiz besteht eine generelle Unterversorgung im Bereich der psychotherapeutischen und psychiatrischen Angebote. Wie haben Sie erreicht, dass sich bereits 14 Psychotherapeut:innen bereit erklärt haben, für das Projekt Ressourcen zur Verfügung zu stellen?

Oft stehen therapeutisch tätige Fachpersonen in der Zusammenarbeit mit den geflüchteten Klient:innen an und die Bearbeitung der Problematiken erweist sich als anspruchsvoll und langwierig. Das setzt auch diese Fachpersonen unter Druck. An unseren Kursen haben viele von ihnen ein „Aha“-Erlebnis: mit Hilfe von „Brücken“ zu Sprache und Kultur kann ein Zugang zu den Klient:innen gelingen, was die Zusammenarbeit viel effektiver gestaltet. Zudem ist die Arbeit mit geflüchteten Menschen sehr interessant. Therapeut:innen können dadurch viel darüber lernen, wie stark belastete Personen ihre Erlebnisse bewältigen und ihre individuellen Ressourcen mobilisieren können.

Das Projekt wird bereits in mehreren Kantonen umgesetzt. Was motivierte die teilnehmenden Kantone, das Projekt zu unterstützen?

Die Lage im Asyl- und Migrationsbereich ist angespannt. Die Ressourcen sind knapp und es wird gleichzeitig immer wieder öffentliche Kritik laut am Umgang der Schweizer Behörden mit den geflüchteten Menschen. Zudem sind unsere bestehenden gesundheitlichen und psychosozialen Angebote nicht angepasst für die Zielgruppe der geflüchteten Menschen. Das Projekt leistet einen wesentlichen Beitrag daran, die notwendigen Massnahmen wie Psychotherapie, psychiatrische Behandlung oder soziale Beratung effizienter und effektiver umsetzen zu können. Belasteten Menschen so rasch und zielführend wie möglich zu helfen, spart letztlich auch Kosten.

Wenn Sie abschliessend über das Projekt hinausdenken: Was können Fachpersonen im Asyl- und Migrationsbereich tun, um Geflüchtete mit psychischen Belastungen zu unterstützen?

Alle geflüchteten Menschen haben enorm viel geschafft in ihrem Leben und verfügen über viele Ressourcen. Sie brauchen vor allem eine Perspektive für sich und ihre Kinder im Alltag und Verständnis für ihre herausfordernde Lebenssituation. Wir müssen sie nicht pathologisieren. Ihre psychischen Belastungen haben auch mit dem Asylsystem zu tun. Zu viele Integrationshürden, die unüberwindbar für sie scheinen. Wir haben am Beispiel der Ukraine-Krise gesehen, was geflüchtete Menschen in erster Linie von uns brauchen: sie aufnehmen, Teil der Gesellschaft werden lassen und ihnen ein normales Leben ermöglichen mit persönlicher und beruflicher Perspektive.

Frau Asefaw, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Gespräch genommen haben.
Weitere Informationen zum Projekt finden Sie im Projektbeschrieb von NCBI.