100 Jahre – 10 Konflikte – 10 bewegende Geschichten und 1 Baby
Kinder leben aktuell weltweit in einem Krieg oder in Krisen- und Konfliktgebieten
Auch heute gefährden bewaffnete Konflikte und Gewalt an Kindern das, worauf jedes einzelne Kind ein Recht hat: eine unbeschwerte Kindheit. Jedes Kind sollte die Möglichkeit haben, seine Träume zu verwirklichen und seine Talente in einer friedlichen Welt zu entfalten. Aktuell leben 426 Millionen Kinder weltweit in einem Krieg oder in Krisen- und Konfliktregionen. Für uns sind das genau 426 Millionen zu viel.
"Ich Lebe" Fotoprojekt
Amal (11 Jahre)
Überlebende des Syrien Krieges
"Ich male gern."
"Was malst du?"
"Haus, Garten, Tiere. Zum Beispiel einen Vogel und eine Kuh."
"Warum den Vogel?"
"Weil er fliegen kann."
Viel mehr sagt Amal nicht. Das 11-jährige Mädchen floh mit ihrer Familie aus der belagerten syrischen Stadt Homs ins Nachbarland Libanon. Seitdem hat sie sich vor der Welt zurückgezogen. Sie schweigt meistens und weint viel. Sie vermisst ihre Grossmutter, die in Syrien zurückblieb. Ihre Eltern wissen nicht, wie sie ihre Tochter trösten können. Amal ist 11 Jahre alt. Aus der zerstörten syrischen Stadt Homs floh sie als Siebenjährige mit ihrer Familie in den Libanon. Heute lebt sie in einer informellen Siedlung in der Bekaa-Ebene. Ihr Vater, Gibran, arbeitet als Lehrer in einer Vorschule von Save the Children, um seiner Tochter und ihren acht Geschwistern das Überleben zu sichern.
Krieg ist mehr als eine militärische Operation. Dieser Krieg ist ein Krieg gegen die Kinder.
Amals Vater ist beliebt, ein gefragter Schlichter in Streitfällen. Seine ausgleichende Art Probleme zu lösen hat ihm den Spitznamen „Man of the Camp“ eingetragen. Amals Mutter, eine warmherzige Frau, bemüht sich nach Kräften, ihren neun Kindern Hoffnung und Zuversicht vorzuleben. Es schmerzt sie, das Verstummen ihrer Tochter mitzuerleben. Beide Eltern können sich nicht vorstellen, dass ihre Tochter fotografiert werden möchte. Doch in der Begegnung mit dem Fotografen Dominic Nahr verändert sich etwas in Amal. Das sonst so verschlossene Mädchen kommt plötzlich aus sich heraus. Sie stemmt die Hand leicht in die Hüfte, schaut direkt in die Kamera. So als würde sie sagen: Schaut her, hier bin ich.
Erich Karl (106 Jahre) Überlebender Erster Weltkrieg
DER JAHRHUNDERTZEUGE
Erich Karl wurde 1913 kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs in Weimar in eine einfache Arbeiterfamilie geboren. Nach Kriegsende erhielt er als 6-jähriger Junge in der Schule sogenannte „Kakao-Trunks“. Finanziert wurden diese mit Spendengeldern von Save the Children aus London, ausgegeben in Weimar von den Quäkern, für Kinder aus bedürftigen Familien, um ihre durch Krieg und Hunger gezeichneten Kinderkörper wieder aufzupäppeln.
Wir sprachen zuhause sehr wenig über den Krieg. Wir wurden als politische Analphabeten erzogen. ‚Kümmert euch bloss nicht um Politik! Das bringt gar nichts‘, sagten meine Eltern. Der Krieg war ein Tabu-Thema.
Erich Karl war Zeitzeuge zweier Weltkriege, der Weimarer Republik und der DDR. Der 106-jährige lebte bis zu seinem Tod im Juni 2021 in seiner eigenen Wohnung in einer Altersresidenz in Berlin. Seine Kindheit im Krieg ist lange her, die Erinnerung daran bruchstückhaft, nur der Blechnapf für den Kakaotrunk war ihm immer gegenwärtig. Die aktuellen Krisen sind gefühlt ganz nah. Von seinem Balkon aus blickte Erich Karl auf ein Containerdorf, in dem Erwachsene und Kinder aus Syrien und Afghanistan leben. Geflohen vor Bedrohung und Gewalt.
Vichuta Ly Überlebende des Pol-Pots Regime
Vichuta war erst 9 Jahre alt, als sie am 17. April 1975 gemeinsam mit ihrer Familie ihre Heimatstadt Phnom Penh verlassen musste. An diesem Tag übernimmt Pol Pot, Anführer der Roten Khmer, gewaltsam die Macht, um einen kommunistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat einzuführen. Mindestens 1,7 Millionen Menschen fielen seiner fast vier Jahre dauernden Schreckensherrschaft zum Opfer. Sie verhungerten oder starben an Krankheiten, wurden auf sogenannten „Killing Fields“ erschossen oder zu Tode gefoltert.
Da waren Granaten, Bomben – überall wurde geschossen. Wir konnten nicht schlafen. Als ich aufwachte sah ich wie meine Schwester und meine Mutter weinen. Sie sagten, dass mein Vater weggebracht worden sei. Ich verstand nicht, was passierte.
RASTLOS
Im Camp in Thailand ist es die Begegnung mit dem kanadischen Botschafter, die Vichuta und ihrer Familie einen Weg aus der desolaten Lage öffnet. Ermutigt durch ihre Mutter schlüpft Vichuta durch die Absperrung und spricht den Botschafter auf Französisch an, das sie als gebildetes Mädchen beherrscht. Der Botschafter ist berührt vom Leidensweg der Familie. Wenige Wochen später verlässt die Familie im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms der UN das Land in Richtung Kanada. Vichuta beendet dort die Schule und studiert Jura. Heute ist Vichuta Ly Menschenrechtsanwältin. 20 Jahre nach dem Verlassen ihrer Heimat kehrt sie regelmässig nach Kambodscha zurück, um Frauen und Kindern in Notsituationen zu helfen.
Vanessa Ntakirutimana (29) Überlebende des Genozids gegen die Tutsi
Vanessa war fünf Jahre alt, als beim Völkermord gegen die Tutsis in Ruanda 1994 innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Menschen getötet wurden. Wie Hunderttausende andere floh auch sie vor der beispiellosen Gewalteruption. Ihre Mutter band sie und zwei ihrer Geschwister an den Hemdsärmeln zusammen, damit sie einander in dem Menschenstrom nicht verlieren.
Meine Mutter rief: ‚Aufwachen! Wir müssen weg! Es ist Krieg.‘ Meine Mutter packte ein paar Sachen zusammen und wir rannten los. Ich weiss nicht mehr, wie wir uns verloren haben. Aber seither habe ich sie nicht mehr gesehen.
Mit ihren Geschwistern zieht Vanessa ohne Eltern oder Familienangehörige von Ort zu Ort. Wohin sie gehen sollen wissen sie nicht. Also laufen sie einfach weiter, gemeinsam mit Hunderttausenden von Flüchtenden. Sie haben Hunger, ab und zu gibt ihnen jemand einen Schluck Wasser in die Hand. Irgendwann kommen sie an einen Ort, an dem Save the Children tätig ist. Die Organisation sucht wie viele andere auch nach dem Völkermord Angehörige für die insgesamt wohl 300.000 umherirrenden Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden.
Dazu hängt Save the Children Polaroid Fotos an öffentlichen Orten aus. Geschulte Teams suchen landesweit nach deren Familien. Auch Vanessa und ihre Geschwister werden fotografiert. Die Polaroids existieren heute noch. Doch was oft glückt, gelingt in Vanessas Fall nicht. Was mit ihren Eltern geschehen ist, hat Vanessa nie erfahren.
Informationen zu den Bildern und dem Fotoprojekt
Alle Bilder sind in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Dominic Nahr im Rahmen des Fotoprojekts „Ich lebe“ erschienen. Das gleichnamige Buch „Ich lebe. Wie Kinder Kriege überstehen. Ein Jahrhundertporträt“ umfasst 324 Seiten und erscheint in deutscher und englischer Sprache im Kerber Verlag. Bestellungen sind online über den Kerber-Verlag und den Buchhandel möglich. Gerne helfen wir Ihnen bei Fragen direkt weiter – kontaktieren Sie uns doch!