Wie geht es geflüchteten Kindern in der Schweiz? Dieser Frage ging Save the Children gemeinsam mit der Volkart Stiftung am 06. Juli 2023 an einer Fachveranstaltung nach. Über 60 Expert:innen aus dem Asyl- und Migrationsbereich, der Zivilgesellschaft und der Forschung diskutierten anhand von zwei Input-Referaten und einem Podiumsgespräch die Herausforderungen in der Unterbringung und Betreuung von geflüchteten Kindern in Schweizer Asylunterkünften.
Die Kultur- und Sozialanthropologin Clara Bombach und die Erziehungswissenschaftlerin Fränzi Buser präsentierten bei der Veranstaltung ihre aktuellen Erkenntnisse zur Perspektive begleiteter geflüchteter Kinder in Asylunterkünften, die sie im Rahmen ihrer Dissertationen an der Universität Zürich erhoben. Bisherige Studien konzentrierten sich bislang auf unbegleitete minderjährige Asylsuchende in der Schweiz. Zu Kindern, die in Begleitung ihrer Sorgeberechtigten hier Asyl beantragen fehlen jedoch wichtige Daten. Die ethnografischen Studien der Zürcher Wissenschaftlerinnen bestätigen die Erfahrungen aus der Praxis und vergleichbarer Studien aus dem Ausland: Weder das Asylverfahren noch die Unterkünfte oder die Betreuung sind auf die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet. Geflüchtete Minderjährige empfinden die Unterbringung in Asylunterkünften, die sie selbst als „Camps“ bezeichnen, trotz des Engagements der Mitarbeitenden und Freiwilligen als grosse Belastung.
Auch die nachfolgende Podiumsdiskussion zwischen (auf dem Foto von links) David Keller (Stv. Leiter Direktionsbereich Bundesasylzentren, SEM), Nina Hössli (Leiterin Schweizer Programme, Save the Children Schweiz), Moderatorin Karin Landolt, Amine Diare Conde (Experte „Unsere Stimmen“, NCBI), Myriame Zufferey (Fachbereichsleiterin Migration, SODK) und dem Fachpublikum verdeutlichten die Herausforderungen und Spannungsfelder im Schweizer Asylsystem.
Wenig Privatsphäre, fehlende Spielräume und viele Transfers
Laut der vorgestellten Studien verspüren die Kinder und Jugendlichen Angst und Ekel gegenüber den gemeinsam genutzten Räumlichkeiten. Ihre einzige Privatsphäre ist oft ihre eigene Matratze im Familienzimmer. Es fehlen sichere Spielräume, altersgerechte Aktivitäten und die Möglichkeit, langfristige Beziehungen aufzubauen. Die häufigen Umzüge zwischen den Unterkünften werden als belastend empfunden. Die Eltern bewegen sich zwischen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihre Kinder und ihrer eigenen psychischen Erschöpfung aufgrund von traumatischen Erlebnissen und der unsicheren Lebenssituation. Oft sorgen sich die Kinder um ihre Eltern und übernehmen (zu) viel Verantwortung im Familienalltag. Ihr grösster Wunsch ist eine „normale“ Kindheit, mit Schulbesuch, Freundschaften und einer eigenen Wohnung. Also Teil der Gesellschaft zu sein.
Was tun?
Behörden haben aufgrund der derzeitigen Ressourcen begrenzte Handlungsmöglichkeiten, aber es gibt einen Ermessensspielraum bei der Priorisierung und beim Umgang mit diesen Begrenzungen. Bund und Kantone können zum Beispiel spezifische Vorgaben für die Unterbringung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen in den Leistungsvereinbarungen mit den Betreuungsorganisationen festlegen.
Das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren sowohl auf kantonaler als auch nationaler Ebene an Bedeutung gewonnen. Mittlerweile erhalten alle Minderjährigen im schulpflichtigen Alter Bildung, selbst wenn es sich dabei oft um zentrumsinterne Schulen handelt. Zusätzlich wurden sozialpädagogische Fachpersonen für unbegleitete minderjährige Asylsuchende eingestellt, kinderfreundliche Räume und Aktivitäten aufgebaut und die Sensibilisierung des Personals für kindliche Bedürfnisse gestärkt. Die Praxis zeigt viel Engagement und kreative Ansätze zugunsten der Kinder, auch vonseiten der Zivilgesellschaft.
Diese positiven Entwicklungen gilt es weiter auszubauen, da die Forschungsergebnisse einen deutlichen Handlungsbedarf aufzeigen. Die Rekrutierung von qualifiziertem, sozialpädagogischem Personal ist sowohl für die Betreuung von unbegleiteten Minderjährigen als auch für Familien mit Kindern von grosser Bedeutung. Erkenntnisse aus der Begleitung von mehrfach belasteten Familien und aus anderen Feldern der Sozialen Arbeit wie der Kinder- und Jugendhilfe oder Eltern-Kind-Institutionen können auch im Asylbereich genutzt werden. Aus diesen Kontexten ist zum Beispiel schon seit langem die grosse Bedeutung der sorgfältigen Gestaltung von Übergängen bekannt. Sowohl die Studien als auch die Diskussionen an der Veranstaltung machten die Problematik der vielen Transfers im Asylbereich deutlich. Anzustreben ist eine möglichst geringe Anzahl von Wechseln zwischen Unterkünften und umfassende, verständliche Informationen für Kinder, Jugendliche und Familien zu anstehenden Transfers. Zudem sind dringend Massnahmen für kindgerechte Verabschiedung, Kontaktpflege und Beziehungsaufbau an neuen Orten erforderlich, um die Kinder nicht weiter zu destabilisieren.
Meine Bitte an die Schweiz: Fleissige und eingewanderte Kinder als ihre eigenen Kinder zu betrachten und nicht anders zu behandeln.
Klar ist: Es gibt nicht ‘die eine grosse Lösung’ für die bestehenden Herausforderungen. Die Unterbringung und Betreuung von geflüchteten Menschen erfordert gemeinsame Anstrengungen von Behörden, Betreuungsorganisationen ebenso wie der Zivilgesellschaft. Hierbei gibt es jedoch noch viel ungenutztes Potenzial. Eine grosse Chance in Asylunterkünften besteht darin, dass Kinder, Jugendliche und Familien dort erreicht werden können. Es ist wichtig, das «da draussen», wie die Kinder es nennen, in die Unterkünfte zu bringen und Familien auch dabei zu unterstützen Angebote «da draussen» wahrzunehmen. Dies umfasst bereits bestehende Dienstleistungen wie Beratungsstellen, Heilpädagogik, Kinderärzt:innen und Freizeitaktivitäten sowie speziell auf Geflüchtete ausgerichtete Sprachkurse und Bildungsangebote. So haben Kinder und Jugendliche zum Beispiel die Möglichkeit ihre Stimmen und Anliegen als Redakteur:innen im Magazin KIJUMA zum Ausdruck zu bringen und kreativ am öffentlichen Diskurs teilzunehmen.
Denn was den strukturellen Begrenzungen entgegengesetzt werden kann, ist die Erweiterung des individuellen Handlungsspielraums: die Stärkung der Fähigkeiten und Kompetenzen der Kinder, Jugendlichen und Familien und die Einbindung ihrer grossen Potentiale. Letztlich wollen alle (geflüchteten) Menschen für sich selbst sorgen, lernen, arbeiten und einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Dies kann auch innerhalb der bestehenden strukturellen Rahmenbedingungen gefördert werden.