Seit dem Beginn der landesweiten Angriffe vor einem Jahr mussten sich Kinder in der Ukraine durchschnittlich 920 Stunden – insgesamt mehr als einen Monat – im Untergrund verstecken. Entlang der Frontlinie im Südosten des Landes hört der Beschuss fast nie auf. Das zeigen zusammenfassende Quellen offizieller Daten.

Alltag mit Sirenenalarm: In Kindergärten haben Mitarbeitende den Keller als Schutzraum für Kinder umgestaltet. Beim Sirenenalarm haben Kinder im Keller nun auch Spiel- und Bastelsachen und können weiterspielen.

Im vergangenen Jahr warnten die Sirenen in der Ukraine 16’207 Mal vor einem Raketenangriff oder Beschuss. Allein in der Region Charkiw heulten über 1700 Sirenen insgesamt rund 1500 Stunden. Wegen der ständigen Angriffe mussten Familien bis zu acht Stunden am Stück unter der Erde Schutz suchen.

Ein Jahr nach Kriegsausbruch: Folgen für Kinder verheerend

Dieses katastrophale Kriegsjahr für Kinder bewertet der neue Bericht „A Heavy Toll“ von Save the Children. Er beschreibt die grossen Gefahren, denen Jungen und Mädchen in der Ukraine jeden Tag ausgesetzt sind, den fehlenden Zugang zu Bildung, aber auch die psychische Belastung durch das Erleben von Gewalt und Vertreibung. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jeder fünfte Mensch, der einen Konflikt erlebt, ein hohes Risiko hat, psychisch zu erkranken.

„Viele Kinder mussten mit ansehen, wie ihre Häuser und Schulen zerstört wurden und ihre Angehörigen im nicht enden wollenden Granaten- und Raketenbeschuss starben“, sagt Sonia Khush, Länderdirektorin von Save the Children in der Ukraine. „Und während der Krieg nun in sein zweites Jahr geht, erleben sie neue Wellen der Gewalt. Kinder haben diesen Krieg nicht begonnen, aber sie zahlen den höchsten Preis.“  Trotzdem seien Kinder mit der richtigen Unterstützung erstaunlich gut in der Lage, schwierige Erfahrungen zu verarbeiten. Diese Chance müsse man ihnen geben.

Viele Kinder mussten mit ansehen, wie ihre Häuser und Schulen zerstört wurden und ihre Angehörigen im nicht enden wollenden Granaten- und Raketenbeschuss starben.

Sonia Kush Länderdirektorin, Save the Children Ukraine

Save the Children fordert, dass in jedem Krieg das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte beachtet werden. Zivilisten sowie zivile Infrastruktur wie Schulen, Wohnhäuser und Spitäler müssen vor Angriffen geschützt werden. Verantwortliche für schwere Verbrechen an Kindern müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Krieg aus der Sicht einer 16-jährigen

Viele Kinder berichteten uns von ihrem Jahr im Krieg. „Wir haben alle geweint und waren zu Tode erschrocken“, erinnert sich Sophia an den 24. Februar, als sie in Charkiw von Explosionen und Sirenen geweckt wurde. Mehrfach wurde sie vertrieben und dann mit acht weiteren Kindern nach Zakarpattia im äussersten Westen der Ukraine evakuiert, wo sie jetzt bei ihrer Grossmutter lebt.

Obwohl diese westliche Region als eine der sichersten gilt, gebe es auch hier oft Luftalarm, sagt Sophia. Dann verbringt sie meist eine Stunde im dunklen, kalten Keller. Während des Schulunterrichts ist es schwieriger, Schutz zu finden.

„Bei Alarm gehen wir älteren Schüler:innen in den Bunker der Dorfverwaltung“, berichtet die 16-Jährige. „Wenn wir rennen, sind wir in fünf Minuten da, sonst dauert es eine Viertelstunde.“ Um in ihren Keller zu Hause zu rennen, brauche sie „genau 47 Sekunden“.

Wenn der Krieg zum Alltag wird

Vor kurzem erschütterte ein Raketenangriff Dnipro im Osten des Landes und zerstörte einen Wohnblock, 46 Zivilisten wurden getötet. Svitlana, Erzieherin in einem Vorstadtkindergarten, berichtet, dass Luftschutzsirenen für die 200 Kinder in der Einrichtung inzwischen zum Alltag gehören: „Sie ziehen sich an, gehen nach draussen und sind in drei Minuten im Schutzraum.“ Der Keller ist jetzt zum Malen, Spielen und Tanzen eingerichtet. Spielerische Übungen sollen den Kindern beim Stressabbau helfen und sie schulen, sich sofort in Sicherheit zu bringen. Ausserdem hat jedes Kind einen Notfallrucksack mit Wasser, Snacks, warmer Kleidung und ihrem Lieblingsspielzeug.

In grösseren Städten wie Kyjiw ist es für Familien zur Gewohnheit geworden, sich in Tiefgaragen oder U-Bahn-Stationen in Sicherheit zu bringen. Anfangs stellten viele dort sogar Zelte auf. „Wenn die Flugzeuge starten, machen wir uns bereit. In den ersten Kriegstagen hatte ich Angst, aber jetzt ist alles Routine. Jeder hat seinen Rucksack. Den nehmen sie und gehen hinaus“, sagt Maryna, eine Mutter von zwei Kindern. Ihre zwölfjährige Tochter Olena beschreibt ihr Leben unter Tage so: „Ich surfe auf dem Handy oder mache vielleicht Hausaufgaben. Wir sind unter der Erde, weil Raketen auf uns abgefeuert werden und es hier für uns sicherer ist. Es ist langweilig, aber besser, als verletzt zu werden.“

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Tiefgaragen und U-Bahn-Stationen In grösseren Städten wie Kyjiw ist es für Familien zur Gewohnheit geworden, sich in Tiefgaragen oder U-Bahn-Stationen in Sicherheit zu bringen. Anfangs stellten viele dort sogar Zelte auf.

Save the Children vor Ort

Wir sind seit 2014 in der Ostukraine tätig. Seit dem 24. Februar 2022 haben wir unsere Einsätze in der Ukraine stark ausgeweitet und mehr als 800’000 Menschen – darunter 436’500 Kinder – mit lebensrettender Hilfe wie Essen, Wasser, Bargeld und sicheren Räumen erreicht.

Mehr Informationen zu unserer humanitären Hilfe in der Ukraine, den Nachbarländern und der Schweiz finden Sie hier.