Nina Hössli, Leiterin Nationale Programme bei Save the Children Schweiz, erzählt über die Bedürfnisse von geflüchteten Kindern und Familien in der Schweiz. Welche Unterstützung brauchen die Kinder? Was können Erwachsene tun im Umgang mit geflüchteten Kindern? Dies und viele weitere Tipps im nachfolgenden Artikel.

Nina Hössli im Interview mit SRF am 10.03.2022 ©SRF

Als Fachorganisation unterstützt Save the Children Schweiz Asylunterkünfte in der ganzen Schweiz im Bereich geflüchtete Kinder und Familien. Seit 2015 setzen wir uns ein für das Einhalten der Kinderrechte, unterstützen bei der Einrichtung von kinderfreundlichen Räumen und bei der Umsetzung von Aktivitäten für geflüchtete Kinder, bieten Schulungen an für Fachpersonen in Asyl- und Migrationszentren und stellen Unterlagen zur kindgerechten Unterbringung und Betreuung und Kindesschutz im Asylbereich zur Verfügung.

Ein Interview mit Nina Hössli, Leiterin Nationale Programme bei Save the Children Schweiz, über geflüchtete Kinder und Familien in der Schweiz:

Wir als Kinderrechtsorganisation betrachten die Situation geflüchteter Kinder und Familien in der Schweiz aus Kinderrechts- perspektive, wonach alle Kinder dieselben Rechte haben.

Nina Hössli

Welche Unterstützung brauchen geflüchtete Kinder in der Schweiz? Und wie kann ein sicheres Umfeld geschaffen werden?

Kinder brauchen in erster Linie Stabilität und Sicherheit. Für alle geflüchteten Kinder – egal welcher Herkunft und welchen Aufenthaltsstatus sie erhalten – ist es wichtig, dass es in der Unterbringung nicht zu viele und abrupte Wechsel gibt. Jedes Mal, wenn das passiert, wird ein Gefühl der Unsicherheit und der Entwurzelung hervorgerufen. Deshalb empfehlen wir seit Aufnahme unserer Arbeit in der Schweiz, dass Familien möglichst rasch Normalität erfahren und Privatsphäre erhalten, indem sie in Wohnungen platziert und Kinder öffentlich eingeschult werden. Ein weiterer zentraler Aspekt ist eine Tagesroutine. Wenn Tagesrituale aufgebaut werden, entsteht ein Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens.

Wie wichtig ist eine rasche Einschulung?

Der grösste Wunsch eines Grossteils der geflüchteten Eltern und Kinder bei der Ankunft in der Schweiz ist die rasche Einschulung der Kinder. Der Zugang zu Bildung hat somit einen Stellenwert, der nicht zu unterschätzen ist. Deshalb ist eine rasche Einschulung in die öffentliche Schule zentral und sie ist ein stabilisierender Faktor für die Kinder und die ganze Familie. Denken wir an die Zukunft der Kinder, ist die rasche Einschulung essenziell, damit keine Bildungslücken entstehen und den Kindern somit künftig alle möglichen Wege offenstehen. Und nicht zuletzt bedeutet eine Einschulung auch, neue Freundinnen und Freunde zu finden.

Wie spricht man mit Kindern über Krieg?

Das ist sehr abhängig vom Alter und Entwicklungsstand des Kindes. Kinder – egal welchen Alters – nehmen die Sorgen der Eltern in irgendeiner Form wahr. Demzufolge ist es wichtig, dass die Bezugspersonen den Kindern erklären, dass es nicht in der Verantwortung der Kinder ist, den Krieg zu beenden. Wenn Kinder nicht von sich aus darüber sprechen möchten, sollten Erwachsene die Kinder nicht dazu drängen. Wenn sie hingegen das Gespräch suchen, dann sollen Bezugspersonen unbedingt Mitgefühl zeigen und zuhören.

Bei älteren Kindern oder Jugendlichen ist es von grosser Bedeutung, dass man im Gespräch mit ihnen bleibt und herausfindet, was sie bereits wissen, wo sie was gesehen und gehört haben. So können Sorgen ans Licht kommen, die sonst von den Kindern alleine getragen werden. Kinder und Bezugspersonen sollen jedoch keinesfalls in Angst und Hilfslosigkeit verharren. Sie können ihre Gedanken und Gefühle z.B. in einem Bild zum Ausdruck bringen oder niederschreiben. Oder sie können aktiv werden und gemeinsam eine Kerze anzünden oder eine Spendenaktion in der Schule organisieren.

Kinder brauchen in erster Linie Stabilität und Sicherheit. Ein weiterer zentraler Aspekt ist eine Tagesroutine.

Nina Hössli

Wie begreifen geflüchtete Kinder den erlebten Krieg und ihre Flucht?

Oftmals verstehen Kinder viel mehr, als wir denken. Bereits ein kleines Kind spürt, was passiert und gesagt wird ohne, dass es dafür dann Worte findet. Aber auch grössere Kinder sprechen nicht immer über das, was sie erlebt haben. Ganz ungeachtet dessen, ob Kinder die Kriegshandlungen oder Übergriffe selbst erlebt haben oder diese „nur“ aus Erzählungen kennen, können solch beängstigende und schreckliche Situationen emotionale Spuren oder Traumata hinterlassen.

Wenn Kinder nicht über das Erlebte sprechen, können Auffälligkeiten manchmal an ihrem Verhalten oder anhand von körperlichen Reaktionen beobachtet werden. Diese äussern sich beispielsweise in Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, starker Traurigkeit, Unruhe, psychosomatischen Störungen, Aggressivität oder in Ängsten. Dabei ist es extrem wichtig, dass das Kind von Bezugspersonen beruhigt und ihm erklärt wird, dass das, was es fühlt, absolut normal ist in Bezug auf das Erlebte. Gleichzeitig sollte zwingend eine Fachperson hinzugezogen werden, die das Kind und auch die Eltern unterstützen kann.

Wenn Kinder nicht über das Erlebte sprechen, können Auffälligkeiten manchmal an ihrem Verhalten oder anhand von körperlichen Reaktionen beobachtet werden.

Nina Hössli

Wie stellt Save the Children sicher, dass Gleichstellung unter Geflüchteten herrscht?

Wir als Kinderrechtsorganisation betrachten die Situation geflüchteter Kinder und Familien in der Schweiz aus Kinderrechtsperspektive, wonach alle Kinder dieselben Rechte haben. Demnach sollte jedes Kind – unabhängig der Herkunft, Hautfarbe oder des Aufenthaltsstatus – dasselbe Recht auf Bildung, Integration, Schutz, Gesundheit und adäquate Unterbringung als Familie erhalten.

Aktuell kommen zahlreiche flüchtende Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz an. Was unternimmt Save the Children im Moment in dieser Situation?

Aufgrund der anhaltenden humanitären Notlage rechnet der Bund damit, dass mehrere 100’000 Geflüchtete aus der Ukraine eintreffen werden. Bereits Mitte März haben sich in der Schweiz mehrere Tausend geflüchtete Personen aus der Ukraine registriert. Der rasche Anstieg an Geflüchteten und die kaum abschätzbare Grössenordnung und Dauer des Krieges führen zu einem erheblichen Druck auf das Schweizer Asylwesen. Dies hat Auswirkungen auf den Schutz und das Wohl aller geflüchteten Kinder, wobei Kinder mit besonderen Bedürfnissen und ohne Begleitung ihrer Eltern besonders verletzlich sind. Save the Children unterstützt geflüchtete Kinder aus der Ukraine in der Schweiz mit folgenden Hilfeleistungen:

1. Stärkung von geflüchteten Kindern durch kreative Aktivitäten
Viele Eltern berichten über Unruhe, Ängste und weitere psychische Belastungen der Kinder aufgrund der Erlebnisse und der gegenwärtigen Situation. Leider fehlen in Asylzentren oftmals Einrichtungen für Kinder zum Spielen oder zum Entspannen. Hier unterstützt Save the Children Schweiz Asylunterkünfte in der ganzen Schweiz mit Familienpaketen (Lern- & Spielanleitungen, Stifte, etc.), Informationsmaterialien in Ukrainisch oder Russisch (Entspannungsübungen, etc.) und mit Traumasets.

2. Stärkung des Kindesschutzes und der kindgerechten Unterbringung
Derzeit werden auf Bundes- und Kantonsebene im Eiltempo neue, temporäre Unterkünfte eröffnet, teilweise allerdings in für Kinder nicht geeigneten Gebäuden. Wir tragen zu einem erhöhten Kindesschutz bei, indem wir Beratungen zur kindergerechten Unterbringung durchführen und materielle und fachliche Unterstützung bei der Umsetzung der Verbesserungsmassnahen leisten.

3. Fachliche Unterstützung für zusätzliche Strukturen wie Gastfamilien
Für Gastfamilien, die Minderjährige und Familien aufnehmen, gibt es keine verbindlichen nationalen Standards, die in so einer grossen Anzahl an Gastfamilien und in kurzer Zeit umsetzbar oder überprüfbar wären. Deshalb unterstützen wir Organisationen, die Gastfamilien begleiten oder weitere Unterbringungs- oder Betreuungsangebote aufbauen, mit unserer Fachexpertise. Damit sollen auch in diesen zusätzlichen Strukturen die Sicherheit für Kinder bestmöglich gewährleistet und eine optimale kinderfreundliche Umgebung geschaffen werden.