Covid-19 schlägt sich dramatisch in der Anzahl neuer Kinderehen nieder. Warum das so ist und was Save the Children dagegen tut, erklärt unser Kommunikationsverantwortlicher Fabian Emmenegger im Interview.

Die 17-jährige Tatu aus Tansania musste mit 14 Jahren einen zehn Jahre älteren Mann heiraten. Ihre Schulbildung hörte ab dann auf.

Wie begünstigt die Corona-Pandemie Kinderehen?

Die Covid-19 Pandemie und die damit verbundenen Schulschliessungen, wirtschaftliche Unsicherheit, Lebensmittelknappheit und erhöhte häusliche Gewalt führt als Konsequenz dazu, dass das Risiko, frühverheiratet zu werden, hauptsächlich für Mädchen, steigt – sogar signifikant. Unseren Schätzungen zu Folge wird der Anteil von Kinderehen zum ersten Mal seit 25 Jahren ansteigen. Dies führt aller Voraussicht nach auch zu einem Anstieg an Teenagerschwangerschaften, von denen viele Risikoschwangerschaften und für betroffene Mädchen gefährlich sind.

Wir haben schon zu Beginn der Covid-19 Pandemie im März und April beobachtet, dass die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie geschlechtsspezifische Ungleichheiten verstärkt – damit verbunden ist auch eine Erhöhung der geschlechtsbasierten Gewalt, wozu Kinderehen zählen. Zudem verunmöglicht es die Pandemie, Daten zum Thema Mädchenheirat zu erheben, so dass wir das wahre Ausmass erst in einigen Jahren sehen werden.

Icon Frau

500'000 Mädchen drohen aufgrund der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie dieses Jahr zusätzlich verheiratet zu werden.

Icon Schwanger

Eine Million Minderjährige mehr könnten schwanger werden und laufen dadurch Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Denn Geburten sind die häufigste Todesursache bei Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren.

Icon Information

Rund 12 Millionen Mädchen werden jedes Jahr verheiratet – zwei Millionen davon vor ihrem 15. Geburtstag.

Welche Kinder sind besonders betroffen?

Davon betroffen sind praktisch ausschliesslich Mädchen. Vor allem in Krisen, wo es oftmals ums Überleben geht, werden Mädchen gezwungen zu heiraten oder sie heiraten, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Dabei sind stark benachteiligte Kinder besonders betroffen, also solche die in den ärmsten Haushalten oder abgelegenen ländlichen Regionen leben oder von humanitären Krisen wie Konflikten, Dürren, Krankheitsausbrüchen oder Überschwemmungen betroffen sind.

Mit der Pandemie bzw. den Massnahmen zur Eindämmung häufen sich die Risikofaktoren für Kinderehen nun an, namentlich Schulschliessungen, Einkommens- und Nahrungsmittelverlust, Krisensituationen oder eingeschränkter Zugang von Hilfsorganisationen.

Warum werden Mädchen, die nicht zur Schule gehen, eher verheiratet?

Grundsätzlich ist es für Mädchen wichtig, so lange als möglich zur Schule zu gehen, damit sich ihre Perspektiven im Leben und somit auch ihre späteren Einkommenschancen verbessern. Schulschliessungen führen nun genau zum Gegenteil: Mädchen haben ohne Bildung weniger Perspektiven für die Zukunft und ihre Eltern tendieren dazu, sie aus Not zu verheiraten – Auch um zu Überleben und Geld zu erhalten.

Zudem verlieren wir als Hilfsorganisation den direkten Zugang zu Mädchen, die die Schule besuchen. Wir können besonders schutzbedürftige oder gefährdete Mädchen nicht identifizieren und ihnen bzw. ihrer Familie helfen und Alternativen aufzeigen.

Durch die Fortschritte der vergangenen 25 Jahren konnten vermutlich 78,6 Millionen Frühverheiratungen verhindert werden. Doch Covid-19 hat das verheerende Potential, all die Fortschritte zunichte zu machen.

Fabian Emmenegger Kommunikationsverantwortlicher Save the Children Schweiz

Gibt es finanzielle Gründe, die für eine Kinderehe sprechen?

Ja, und zwar werden Mädchen mehrheitlich aus finanziellen Gründen verheiratet. Denn für viele Familien geht es in der aktuellen Situation ums nackte Überleben. Vor allem Menschen, die von der Hand im Mund leben und nun von der wirtschaftlichen Situation hart getroffen sind, haben meist keine andere Wahl, als ihre Töchter zu verheiraten. Oftmals erhalten die Familien durch die Verheiratung ihrer Töchter Geld oder Vieh, wovon sie leben und die restliche Familie ernähren können – und man hat anschliessend eine Person weniger, für die man Essen auftreiben muss. Es passiert also auch aus der Verzweiflung.

Gerade in Südostasiatischen Ländern steigt das Risiko für Kinderehen stark an. Warum ist das so? Inwiefern begünstigen die dortigen Strukturen Kinderehen?

Ein Grossteil dieser Kinderehen entfällt auf bevölkerungsreiche Länder wie Indien, Bangladesch oder Pakistan, wo mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben. In diesen Ländern ist es hauptsächlich in ländlichen Gebieten Teil der Kultur, dass Kinder verheiratet werden. Da nun viele Tagelöhner und Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, in ihre Dörfer zurückkehren, befürchten wir da eine Häufung von Kinderheirat. Unter diesen Rückkehrern sind auch viele Mädchen oder Frauen, die in der Textilverarbeitung arbeiten (v.a. in Bangladesch) und die aufgrund geschlossener Fabriken nun keine andere Alternative sehen, um über die Runden zu kommen oder ihre Familien zu ernähren.

Was wir abgesehen von Südostasien ebenfalls beobachten, ist, dass speziell in krisengeschüttelten Regionen der Anteil von Kinderehen enorm hoch ist. Neun von zehn Staaten mit den höchsten Raten an Kinderehen sind fragile Staaten, die meisten davon in Sub-Sahara Afrika. Dabei spielen Konflikte und humanitäre Krisen eine Rolle, denn sie sind Ursachen, dass mehr Kinderehen geschlossen werden.

Abbildung: Durch die Covid-19-Pandemie sind in diesem Jahr 500'000 Mädchen zusätzlich dem Risiko ausgesetzt, verheiratet zu werden, in den nächsten 5 Jahren sind es bereits 2,5 Millionen. © Save the Children

In den letzten 25 Jahren konnte der Anteil von Mädchen, die verheiratet werden in allen Einkommensschichten erfreulicherweise reduziert werden, auch wenn der Fortschritt in den letzten Jahren verlangsamte. © Save the Children

Was macht Save the Children, um Kinderehen zu verhindern?

Um so ein komplexes Thema wie die Kinderheirat zu verstehen und aus der Welt zu schaffen, müssen wir zuerst einmal die kulturellen Aspekte (sozial und ökonomisch) betrachten und verstehen. Wir gehen davon aus, dass alle Eltern das Beste für ihre Kinder wollen und oftmals auch aus der Not gehandelt wird. Was wir dann in unseren Projekten tun können, ist das Aufzeigen von Alternativen. Sei es, indem wir dafür sorgen, dass Mädchen länger zur Schule gehen und eine gute Ausbildung erhalten, indem wir Gemeinschaften in die Verantwortung nehmen Mädchen zu fördern oder indem wir arme Familien mit Nahrungsmitteln oder finanzieller Hilfe unterstützen, damit ihre Kinder trotzdem zur Schule gehen können. Denn mit der Verhinderung von Frühverheiratung senken wir beispielsweise auch die Sterblichkeit von Mädchen als Folge von Teenagerschwangerschaften.

so setzen sich mädchen gegen kinderheirat ein

Mehr Infos zum Thema

In unserem kürzlich erschienenen Bericht „Girlhood Report“ zeigen wir auf, dass viele der Fortschritte, die in den letzten Jahren für Mädchen erreicht wurden, durch die Covid-19-Pandemie in Gefahr sind. So zeigt sich, dass die Kindersterblichkeit sich mehr als halbiert hat, Verkümmerung abgenommen hat, der Unterschied von Einschulung zwischen Mädchen und Jungen deutlich abgenommen hat – aber leider auch, dass die Mädchenheirat zwar gesunken ist, aber letztlich leicht abgeflacht ist.

Der Bericht "Girlhood Report" pdf - 3,41 MB

Mehr Informationen auch im ausführlichen Bericht vom Dezember in der NZZ

Zum Artikel