Doris Ospelt, Programmbeauftragte für Europa bei Save the Children Schweiz, hat kürzlich ein vielseitiges Projekt in Italien besucht. Was sie dabei über Menschenhandel und Flucht erfahren hat, schildert sie im Interview.
Frau Ospelt, Sie waren vor kurzem auf Projektbesuch in Italien. Können Sie uns berichten, was Sie dabei gemacht haben und um was für ein Projekt es sich handelt?
Ich besuchte zusammen mit dem Leiter Kinderschutz Sofyen Khalfaoui ein Projekt, das zwei Komponenten enthält: Schutz für Kinder auf der Flucht und Schutz und Reintegration für Opfer von Menschenhandel. Dieses Projekt findet in unterschiedlichen Teilen Italiens statt, die Komponente Menschenhandel wird beispielsweise von sieben lokalen NGO Partnern in sieben Regionen Italiens umgesetzt. Diese konnten wir während fünf Tagen jedoch nicht alle besuchen und haben uns auf die Projektableger in Padua, Veneto und Rom fokussiert.
Wie sah Ihr Alltag da aus?
Während des Projektbesuches haben wir uns natürlich viel mit den Teams vor Ort ausgetauscht – mit Mitarbeitenden von Save the Children Italien, unseren Partnerorganisationen und auch mit Kindern, die vom Projekt profitiert haben.
Wir durften die Teams bei ihrer Arbeit auf der Strasse aber auch direkt begleiten. Im sogenannten Outreach werden potenziell Betroffene angesprochen und Informationsmaterialien verteilt, es wird der erste Kontakt aufgebaut. Es wird ihnen gezeigt, wie wir helfen können und beispielsweise eine Rechtsberatung oder psychologische Unterstützung angeboten. Wir überweisen sie auch weiter – bei gesundheitlichen Problemen etwa und wir haben auch sichere Räume, wo Kinder sich aufhalten können und geschützt sind.
Unsere Strategien sind in beiden Komponenten ‚Kinder auf der Flucht‘ sowie auch ‚Menschenhandel‘ ähnlich, da wir einerseits direkt mit Betroffenen zusammenarbeiten, aber andererseits auch die Kompetenzen lokaler Akteure stärken und Anwaltschaft betreiben – wir sensibilisieren für das Thema und informieren in der Öffentlichkeit, z.B. mit diesem Bericht.
Es muss natürlich auch bedacht werden, dass es sich hierbei um langfristige Arbeit handelt und man nicht sofort die Auswirkungen sieht. Man muss Vertrauen aufbauen, die Betroffenen immer wieder ermutigen, das braucht Zeit. Daher ist es auch schwierig, konkrete Zahlen zu liefern bzw. müssen diese anders interpretiert werden als z.B. bei kurzfristigen, humanitären Einsätzen. Für die Kinder und Jugendlichen hat unsere Arbeit in diesem Projekt auf jeden Fall sehr grosse, ja lebensverändernde Auswirkungen.
Wie wird den Menschenhandel-Opfern denn konkret geholfen?
Wie gesagt, findet über den Outreach eine Kontaktaufnahme statt, wo wir Hilfe anbieten und auch eine kostenlose Nothilfenummer verteilen. Wenn sich darauf eine Person meldet, ist es zwingend, dass sie zu jeder Tages- und Nachtzeit jemanden erreichen kann. Es folgen verschiedene Phasen; die betroffene Person ist erstmal an einem sicheren Ort, kann sich entscheiden, ob und wie sie sich helfen lassen will und die verschiedenen Optionen abwägen.
Es ist für die Betroffenen oft schwierig, sich zu melden, da dies mit sehr grossen Schuldgefühlen verbunden ist. Gerade Mädchen und junge Frauen in Zwangsprostitution kämpfen stark mit sich selbst, da oft auch bindende Rituale und psychologische Manipulationen erfolgen, die sie davon abhalten sollen, ihrer Familie von den Geschehnissen zu erzählen, geschweige denn sich zu wehren oder auszubrechen. Meist kommen die mehrheitlich jungen Frauen erst nach einem emotionalen Zusammenbruch auf uns zu, welcher oft mit dem Erkennen ihrer Situation zusammenhängt.
Es ist ja schon schockierend, dass Menschenhandel in Italien passiert.
Nun ja, Menschenhandel gibt es leider überall in Europa, auch in der Schweiz. Es gibt Zahlen die besagen, dass heute weltweit mehr Menschen in sklavenartigen Verhältnissen leben als zur Zeit der Sklaverei. Das ist leider Realität.
Was haben Sie für persönliche Eindrücke vom Projekt?
Es war einerseits eine durchaus positive Erfahrung, zu sehen, wie organisiert und professionell unsere Save the Children Teams und Partnerorganisationen vor Ort sind und mit was für einer Beharrlichkeit sie sich seit vielen Jahren für die Betroffenen einsetzen. Andererseits hat es mich natürlich auch sehr berührt. Es sind wahnsinnig schwierige, herausfordernde Realitäten. Es ist auch nochmals etwas ganz Anderes, mit einer betroffenen Person vor Ort direkt zu sprechen.
Sie haben ja mit verschiedenen Personen, die Opfer von Menschenhandel wurden, gesprochen – können Sie uns hier einen Einblick geben?
Ich hatte die Gelegenheit mit Betroffenen zu sprechen, die ganz Unterschiedliches erlebt haben. Es waren Personen aus der Zwangsprostitution, aber auch solche, die zu kriminellen Handlungen gezwungen wurden. Es war für mich sehr berührend, als sie von ihren Träumen und Wünschen erzählt haben – zum Beispiel hat sich ein Junge selbst mit den Worten «piano, piano» („langsam, langsam“) ermahnt: es gilt einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Besonders eindrücklich war auch das Treffen mit zwei jungen Frauen, die dank unserem Projekt jetzt in einem Hotel arbeiten und ein selbstständiges Leben führen können.
Über „Via d’Uscita“ und Save the Children Italien
In Anbetracht der allgemeinen Situation der Migrationsbewegungen geben nigerianische Mädchen, die dem Menschenhandel ausgesetzt sind, Anlass zu besonderer Sorge. Trotz des allgemeinen Rückgangs der im Jahr 2017 auf dem Seeweg nach Italien eingetroffenen Migranten ist ihre Situation in Italien nach wie vor prekär.
In Italien hat Save the Children 1660 Opfer von Menschenhandel identifiziert, wobei dies eine ständig wachsende Zahl von Minderjährigen inkludiert. Dieser Anstieg wurde auch direkt von den Betreibern unseres Projekts „Via d’Uscita“ beobachtet, das bis 2018 in 5 Regionen 2210 Opfer des Kinder- und Jugendhandels abfing. Gegenüber dem Vorjahr wuchs diese Zahl um 58 Prozent.
Es gibt Zahlen die besagen, dass heute weltweit mehr Menschen in sklavenartigen Verhältnissen leben als zur Zeit der Sklaverei. Das ist leider Realität.