Das Interview mit Serge, Fachspezialist Schweizer Programme von Save the Children Schweiz, zeigt: In Kollektivunterkünften sind Kinder einem hohen Risiko ausgesetzt, Gewalt mitzuerleben. Oft fehlt jedoch das Bewusstsein, welche gravierenden Folgen dieses Miterleben für Kinder haben kann. Der Gewaltschutzleitfaden wurde entwickelt, um Mitarbeitenden konkrete, einfach anwendbare Schritte an die Hand zu geben, wie sie Kinder in solchen Situationen schützen, begleiten und stärken können.

Gewalt mitzuerleben, sollte nicht normal sein


Ein Gespräch zum leitfaden von Save the Children

Wir sprechen mit unserem Kollegen Serge, Fachspezialist Schweizer Programme bei Save the Children Schweiz, der den Leitfaden «Wenn Kinder Gewalt miterleben» mitentwickelt hat. Geflüchtete Kinder, die in Kollektivunterkünften leben, haben ein hohes Risiko, dass sie Gewalt miterleben. Save the Children hat deshalb einen Leitfaden für Mitarbeitende entwickelt, der zeigt, wie sie Kinder schützen und stärken können. Das langfristige Ziel besteht aber darin, Strukturen zu schaffen, die Gewalt vorbeugen und Kinderrechte im Alltag sicherstellen.

In Kollektivunterkünften sind die Aufgaben vielfältig, die Zeit knapp und Gewaltsituationen komplex. Mitarbeitende brauchen kurze, klare und konkrete Handlungsmöglichkeiten, die sie direkt anwenden können. Genau das bietet der Leitfaden mit konkreten Beispielen.

Serge Ducrocq Fachspezialist Schweizer Programme

1. Serge, worum geht es im Leitfaden und für wen ist er gedacht?

Der Leitfaden ist ein praktisches Werkzeug für Mitarbeitende in Kollektivunterkünften. Er zeigt ihnen Schritt für Schritt, wie sie in einer Gewaltsituation handeln, Kinder schützen und sie anschliessend begleiten können.

2. Warum ist der Leitfaden in einfacher Sprache verfasst und mit Beispielen angereichert?

Wir wollten ein Werkzeug, das im Alltag direkt von Mitarbeitenden angewendet werden kann. Der Leitfaden verwendet eine einfache, gut verständliche Sprache mit kurzen Sätzen. So können ihn auch Mitarbeitende verstehen, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen.

In Kollektivunterkünften sind die Aufgaben vielfältig, die Zeit knapp und Gewaltsituationen komplex. Lange Fachtexte sind in akuten Situationen nicht hilfreich. Mitarbeitende brauchen kurze, klare und konkrete Handlungsmöglichkeiten, die sie direkt anwenden können. Genau das bietet der Leitfaden mit konkreten Beispielen.

Um den Umgang mit Gewaltsituationen zu üben, bieten wir zusätzlich Schulungen zum Leitfaden an.

3. Was war der Auslöser, den Leitfaden zu entwickeln?

Eine Mutter hat mir erzählt, dass ihre Kinder eine Gewaltsituation auf dem Gang in der Unterkunft miterlebt haben. Ihre Kinder konnten danach nicht mehr schlafen und es kümmerte sich niemand gezielt um sie. Da wurde mir klar: Wir müssen über das Miterleben von Gewalt sprechen.

In Gesprächen mit mehreren Unterkünften zeigte sich, dass es zwar Meldewege gibt, wenn Kinder Opfer von Gewalt werden, aber kaum Sensibilisierung oder ein abgestimmtes Vorgehen, wenn Kinder Gewalt miterleben.

In Gesprächen mit mehreren Unterkünften zeigte sich, dass es zwar Meldewege gibt, wenn Kinder Opfer von Gewalt werden, aber kaum Sensibilisierung oder ein abgestimmtes Vorgehen, wenn Kinder Gewalt miterleben. Also haben wir einen Fragebogen entwickelt, Bedarfe erhoben und das Ganze auf Basis der internationalen Expertise von Save the Children zu Psychological First Aid for Children, unserer jahrelangen Erfahrung in Kollektivunterkünften und dem Wissen von Fachstellen den Leitfaden entwickelt.

4. Warum braucht es diesen Leitfaden gerade in Kollektivunterkünften?

In Kollektivunterkünften gibt es kaum Rückzugsmöglichkeiten. Oft haben die Menschen schwieriges im Herkunftsland oder auf der Flucht erlebt und machen sich grosse Sorgen um ihre Zukunft. Das kann sehr belastend sein. In solchen Situationen kann es zu Konflikten und Gewaltsituationen kommen. Kinder, die in diesen Unterkünften leben, haben ein hohes Risiko, dass sie diese Gewalt miterleben. Das kann Gewalt zwischen den Eltern, zwischen Bewohnenden oder auch Polizeigewalt sein. Gleichzeitig fehlt oft das Wissen darüber, welche erheblichen Folgen das Miterleben von Gewalt für sie haben kann.

Als Save the Children Schweiz ist es unser Auftrag die Perspektive und das Erleben der Kinder sichtbar zu machen und das Wohl des Kindes konsequent in den Mittelpunkt zu stellen.



Auszug aus dem Gewaltschutzleitfaden «Wenn Kinder Gewalt miterleben» von Save the Children Schweiz


5. Was ist die Kernaussage des Leitfadens?

Gewalt hat immer eine negative Wirkung auf Kinder. Nichts zu tun, ist in diesem Fall der falsche Ansatz. Der Leitfaden führt durch drei Phasen, wobei alle gleich wichtig sind: Prävention, Intervention und Nachbearbeitung. Er zeigt, wie Kinder gestärkt werden, wie man sie in der Situation schützt und im Anschluss begleitet. Wichtig ist, Kinder sollen sich nicht ohnmächtig fühlen. Wir stärken ihre Selbstwirksamkeit und besprechen Strategien, wie sie reagieren  können, wenn es wieder zu Gewalt kommt.

Gewalt hat immer eine negative Wirkung auf Kinder. Nichts zu tun, ist in diesem Fall der falsche Ansatz.

6. Wie kann die Begleitung im Anschluss aussehen?

Wenn Kinder etwas Belastendes miterlebt haben, sollten wir darüber sprechen, damit Gewalt nicht als etwas Normales wahrgenommen wird. Es braucht Räume, in denen Kinder ihre Gefühle zeigen und das Erlebte einordnen können. Aus pädagogischer Sicht wünsche ich mir, dass es in jeder Unterkunft eine fachlich geschulte Ansprechperson gibt, die das Thema mit den Kindern aufgreift. Wichtig ist aber vor allem, dass Mitarbeitende und Eltern betroffene Kinder bewusst im Blick behalten. Verändert sich etwas im Verhalten? Dann braucht es Unterstützung. Dann müssen gezielt Fachstellen einbezogen werden.

7. Was war bei der Entwicklung besonders herausfordernd?

Alle, mit denen ich über die Idee eines Gewaltschutzleitfadens gesprochen habe, waren sich einig, dass dieser dringend gebraucht wird. Die grosse Herausforderung war der Weg von der Idee bis zur konkreten Umsetzung. Einen Leitfaden zu entwickeln, der die Komplexität von Gewaltsituationen abbildet und gleichzeitig einfach zu handhaben ist, war herausfordernd.

Ich arbeite seit Jahren in der Kompetenzförderung. Dabei hat mich stets eine Frage begleitet. Wie können wir Kinder in einer so belastenden Situation stärken? Das wollte ich bei der Entwicklung immer mitdenken und trotzt der Komplexität nicht aus den Augen verlieren.

Herausfordernd war auch die Zeit. Es waren viele Fachstellen und Fachpersonen beteiligt. Uns war wichtig, ein fachlich gutes und in der Praxis anwendbares Produkt zu entwickeln. Das hat seine Zeit gedauert.

8. Woran merkst du im Alltag der Kinder, dass der Leitfaden wirkt?

Ich bin ein bisschen ein Visionär. Mein Wunsch ist, dass die Perspektive von Kindern und das Kindswohl in den Mittelpunkt gestellt wird. Der Leitfaden zeigt Wirkung, wenn Kinder in Kollektivunterkünften gestärkt sind und das Thema Gewalt miterleben mehr Aufmerksamkeit bekommt.