Wie können geflüchtete Kinder in Asylunterkünften wirksam geschützt werden? Dieser Frage gingen wir gemeinsam mit der Max Kohler Stiftung am 18. Juni 2023 an einer Fachveranstaltung nach. Rund 100 Expert:innen aus dem Asyl- und Kindesschutzbereich, der Zivilgesellschaft und der Forschung diskutierten anhand von vier Impuls-Referaten und einem Podiumsgespräch die Herausforderungen von Kindesschutz im Schweizer Asylwesen.

Ein Kleinkind verbringt ganze Tage allein im Kinderwagen.
Ein Schulkind stellt sexuelle Praktiken mit anderen Kindern nach.
Eine Jugendliche kommt kaum mehr aus dem Bett.
Ein Kind wird Zeuge von Handgreiflichkeiten zwischen den Eltern.

Was haben alle diese Situationen miteinander gemeinsam? Sie weisen auf eine Gefährdung des Kindeswohls hin. Und es sind reale Beispiele aus Schweizer Asylunterkünften. Geflüchtete Kinder sind besonders verletzlich. Sie haben oftmals schreckliche Dinge erlebt und brauchen Hilfe bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse. Gleichzeitig wünschen sie sich ein ’normales‘ Leben: in Sicherheit sein, zur Schule gehen und eine Ausbildung absolvieren, mit der Familie zusammen in einer Wohnung leben und Freunde finden.

Doch der Alltag in Asylunterkünften entspricht oft nicht diesen Bedürfnissen und birgt einige Risiken. Denn das Asylsystem ist eine Kumulation von Risikofaktoren für die Entstehung von Kindeswohlgefährdungen: Es leben viele Menschen auf engstem Raum zusammen, die Gewalt erlebt haben, psychisch stark belastet sind, nicht arbeiten und sich nicht wie gewünscht in eine Gemeinschaft integrieren können.

Oft entsteht ein grosses Ungleichgewicht zwischen den vorhandenen Belastungen und den eigenen Ressourcen, um diese Belastungen bewältigen zu können. Und dieses Ungleichgewicht führt manchmal auch zur Entstehung von Gewalt in verschiedenen Formen. Das gilt für Eltern und Familien, aber auch für die anderen Bewohner:innen einer Unterkunft.

Kindesschutz gilt auch im Asylbereich

Entsprechend stellen sich Fragen:

  • Wie können wir als Gesellschaft mit diesen Risiken besser umgehen?
  • Wie erkennen wir, ob ein Kind gefährdet ist?
  • Und wer ist zuständig, um geflüchtete Kinder zu schützen?

«Ein wirksamer Kindesschutz beginnt bei der Früherkennung», hielt Serafina Schelker, Fachperson Kindesinteresse bei Save the Children, in ihrem Eingangsreferat fest. Alle Personen, die im Alltag mit Kindern, Jugendlichen und Eltern im Kontakt sind, können mögliche Risikosituationen erkennen.

Zu beobachten, wie es Kindern und Jugendlichen geht, ist der erste Schritt zum Schutz von Kindern. Diese Beobachtungen im Team zu besprechen und sich von externen Fachstellen beraten zu lassen, ist der zweite wichtige Schritt. Denn Kindesschutz bedeutet, immer im Einzelfall zu beurteilen, was ein Kind oder eine Familie braucht und welche Hilfsmassnahmen am besten geeignet sind.

Kinder behalten schmerzvolle Erfahrungen oft für sich. Deshalb brauchen sie aufmerksame Erwachsene, die Belastungen wahrnehmen und ansprechen.

Serafina Schelker Fachperson Kindesinteresse bei Save the Children Schweiz

Niederschwellige Unterstützung für geflüchtete Eltern

Für die Umsetzung solcher Massnahmen gibt es spezialisierte Fachstellen und die Kindesschutzbehörde. Eine gute Kooperation und Vernetzung zwischen Asylunterkünften und bestehenden Angeboten ist deshalb eine wichtige Voraussetzung für gelingenden Kindesschutz. Dass viele schwierige Situationen bereits durch freiwillige und niederschwellige Angebote gelöst werden können, zeigten drei Beispiele aus der Praxis.

Austausch im Elterncafé

Geflüchtete Eltern sind mit besonderen Herausforderungen konfrontiert und fühlen sich oftmals verunsichert. Ein Modellprojekt in einer Asylunterkunft nahm dies zum Anlass, um ein Elterncafé zu gründen.

Einmal im Monat treffen sich alle Eltern für zwei Stunden und tauschen sich zu verschiedenen Fragen des Familienlebens aus. Sie erhalten Informationen zum Schulsystem und den Erziehungsvorstellungen in der Schweiz, erarbeiten gemeinsam Ideen für Aktivitäten mit den Kindern oder beschäftigen sich mit Regeln im Umgang mit digitalen Medien. Das Elterncafé vermag zwar nicht alle Probleme zu lösen, doch die Eltern fühlen sich in ihrer Rolle unterstützt und schätzen das Angebot vor Ort.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern muss wertschätzend aufgegleist werden.

Jasha Wunderli Betriebsleiter im Asylzentrum Linth Uznach

Muttersprachliche Brückenbauer:innen

Für Familien gibt es in der Schweiz zahlreiche Angebote – von Beratungsstellen über Familienzentren bis hin zu Freizeitkursen. Für geflüchtete Menschen ist der Zugang zu diesen Angeboten jedoch aufgrund der sprachlichen Barriere erschwert.

Hier setzt das Projekt Muttersprachliche Begleitpersonen des Amtes für Jugend- und Berufsberatung des Kantons Zürich Region West an. Geschulte Personen aus verschiedenen Sprach- und Kulturkreisen erklären geflüchteten Familien verschiedene Angebote und begleiten sie zu Gesprächen bei Fachstellen. Dadurch können viele Hürden für geflüchtete Familien abgebaut werden.

Peer-to-Peer-Programm

Der Einbezug von Personen mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund (Peer-to-Peer-Ansatz) wird auch bei der Fachstelle a:primo seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt. Im Frühförderungsprogramm schritt:weise übernehmen geschulte Lai:innen die Aufgabe, belastete Eltern regelmässig zuhause zu besuchen. Die Familien erhalten dabei vielfältige Inputs und Unterstützungen, wie sie den Alltag mit kleinen Kindern bewältigen und die Kinder altersgerecht fördern können. Wichtige Elemente zur Stärkung der Eltern können auch in Asylunterkünften umgesetzt werden: Der Aufbau von Ritualen im Alltag, die Vernetzung mit bestehenden Angeboten oder der Einbezug von Vätern sind wichtige Aspekte, die zu einer Verbesserung des Familienlebens beitragen.

 

Schlüsselpersonen gewinnen schnell das Vertrauen der Eltern und dank aktiver Vernetzung mit Fachpersonen bieten wir rasch wirkungsvolle Angebote an.

Esther Stauffer Koordinatorin Projekt Schlüsselpersonen, AJB Region West

Strukturelle Perspektive: Kindesschutz als Verbundsaufgabe

Im Asylbereich gibt es diverse Risiken, denen nicht mit niederschwelligen Unterstützungsangeboten begegnet werden kann. Es sind strukturelle Probleme, die zu einer Beeinträchtigung des Wohles von Kindern führen. Diese wurden im von Melanie Pfändler moderierten Podiumsgespräch zwischen Dr. Samuel Keller, Dozent an der ZHAW Soziale Arbeit, Roger Husistein, Mitglied der Kindesschutzbehörde Emmental und Nina Hössli, Leiterin Schweizer Programme bei Save the Children, diskutiert.

Überbelegt und unterbesetzt

Aus der Aufarbeitung der Heimgeschichte in der Schweiz weiss man, dass ein Setting wie die Asylunterkunft die schlechteste Möglichkeit für Kinder ist, um aufzuwachsen. Zu viele Menschen in problematischen Situationen treffen auf viel zu wenig Personal. Diese strukturellen Belastungen erhöhen das Risiko, dass die Traumatisierung geflüchteter Kinder verstärkt wird. Aus Kindeswohl-Perspektive würde man das Asylwesen nicht so konzipieren.

Das tun, was möglich ist

Die Unterbringung in Unterkünften bringt jedoch auch eine grosse Chance mit sich: von Familien und Jugendlichen vor Ort. Gewaltschutzkonzepte in Unterkünften, Sprechstunden von Beratungsstellen in den Zentren, Austauschgefässe unter Eltern oder Aktivitäten zur Stärkung der psychischen Gesundheit. All diese Massnahmen können kostengünstig umgesetzt werden und bewirken gleichzeitig bereits viel. Denn Prävention ist ein wichtiger Grundgedanke im Kindesschutz. Zudem können auch gute Praxisbeispiele aus Nachbarländern wie Deutschland übernommen werden. Dort wird der Unterstützungsbedarf von Minderjährigen in der Ankommenszeit abgeklärt und danach passende Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe vermittelt.

Wir alle sind für den Schutz von Kindern verantwortlich, wenn auch in unterschiedlichen Rollen.

Nina Hössli Leiterin Schweizer Programme bei Save the Children

Strukturelle Veränderungen initiieren

Dennoch braucht es auch Arbeit auf systemischer Ebene. Erfolge wie der Zugang zu Schulbildung in den Bundesasylzentren oder die Forschungsarbeiten zum Kindeswohl im Asylwesen sind nur durch gemeinsame Lobbyarbeit möglich. Denn letztlich können nur strukturelle Vorgaben wie Standards oder Richtlinien eine Handlungssicherheit für alle Beteiligten schaffen.

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