Asylgesuche in der Schweiz 44% aller Asylgesuche stammten 2021 von Minderjährigen, davon waren 56% jünger als 6 Jahre
Alliance enfance hat in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit, dem Staatssekretariat für Migration und der Gesundheitsförderung Schweiz am 29. August 2022 eine Tagung zum Thema "Früherkennung und Frühintervention in der frühen Kindheit“ organisiert.
Nina Hössli, Leiterin der Schweizer Programme bei Save the Children Schweiz, hat mit den anwesenden Fachpersonen in ihrem Workshop Risiko- und Schutzfaktoren im Asylbereich diskutiert. Im Interview berichtet sie von den Ergebnissen und erklärt, auf was Asylunterkünfte besonders achten sollten hinsichtlich der jüngsten Bewohner:innen.
Nina, du hast Ende August an der Tagung "Früherkennung und Frühintervention in der frühen Kindheit" teilgenommen. Worum ging es da genau?
Das Beispiel ist so wichtig, weil es enorm schwierig ist, die Familien, die Hilfe brauchen, zu erreichen. Man sieht die Familien bei der Geburt im Spital und dann vielleicht erst wieder, wenn die Kinder in die Schule kommen. Und genau da unterscheidet sich der Asylbereich: Wir können geflüchtete Familien erreichen. Das ist ein riesiger Vorteil. Auch wenn wir von Save the Children Schweiz empfehlen, Familien nur möglichst kurz in Kollektivunterkünften wohnen zu lassen.
Du durftest an der Tagung einen Workshop leiten. Weshalb war es aus Sicht der Organisator:innen wichtig, dass ein Atelier spezifisch den geflüchteten Kindern gewidmet wird?
Es gab an der Tagung verschiedene Workshops zu verschiedenen Themen und Bereichen. Rund um das Thema „belastete Familien“ kommt der Aspekt des Fluchthintergrunds immer wieder auf. Oftmals wird jedoch erst im Integrations-Prozess für die betroffenen Familien gesorgt. Wenn es um Früherkennung geht, wäre es sinnvoll schon auf Ebene der Bundesasylzentren damit zu beginnen. Im Asylbereich gibt es zu Früherkennung und -intervention jedoch viel Lern- und Verbesserungspotential. Die Familien durchlaufen viele Transfers von einem Zentrum zum anderen. Da stellen sich Fragen wie: Welches sind die richtigen Massnahmen? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Und wo ist der richtige Ort zum Intervenieren? Es braucht sicher schnellere, aber auch einfache Unterstützungsangebote wie z.B. Familienbegleitungen. Oder wenn Kinder schon früh in eine Spielgruppe oder Kita gehen, dann gibt es wiederum Chancen, dass Fachpersonen Herausforderungen der Familie früh erkennen und Unterstützung bieten können.
Was hast du mit den Teilnehmenden in deinem Workshop diskutiert?
Die Teilnehmenden kamen aus unterschiedlichen beruflichen Positionen, aus der Forschung, von Behörden oder Integrationsfachstellen sowie von der Mütter-Väter-Beratung. Deshalb haben wir damit begonnen, eine Auslegeordnung zu machen, welche Berührungspunkte sie mit Kindern im Asylwesen haben.
Darauf aufbauend haben wir Herausforderungen und Risiken aus Sicht von Kindern im Asylzentrum diskutiert: Die Struktur von Kollektivunterkünften ist anonym und gross, es gibt wenig Privatsphäre, die Kinder und Eltern sind belastet durch Gewalt- und Fluchterfahrungen. Auf den verschiedenen Stationen der Flucht müssen Kinder mit ständig wechselnden Personen Beziehungen aufbauen. In der Schweiz sind sie in einer fremden Umgebung mit einer fremden Sprache und fremden Regeln. Der Alltag ist sehr fremdbestimmt, das beschäftigt auch die Eltern sehr.
Es wäre zentral, wenn man mit Fachstellen zusammenarbeiten und regelmässig Mütter-Väter-Beratung, Spielgruppen, heilpädagogische Dienste oder auch Angebote von Freiwilligen wie Eltern-Kind-Turnen anbieten könnte.
Im Asylbereich selbst gibt es zudem systemische Risikofaktoren: eine hohe Arbeitsbelastung mit verschiedenen Aufgaben im Alltag bei gleichzeitig tiefem Betreuungs-Schlüssel sowie wenige oder keine ausgebildete Fachpersonen im Bereich Sozialarbeit, Pädagogik oder Trauma. Zudem gibt es viele unterschiedliche Zuständigkeiten durch die Transfers von Bundes- zu kantonalen Zentren und weiter zu Unterkünften auf Gemeindeebene. Und nicht zuletzt gibt es unterschiedliche Rechte oder Unterbringung je nach Aufenthaltsstatus oder zugewiesenem Kanton. Eine Familie ist anderen Risiken ausgesetzt in einer Wohnung als in einer Nothilfe-Unterkunft.
Ihr habt viele Herausforderungen und Risiken benannt, vor denen sowohl geflüchtete Familien als auch die Mitarbeitenden in Asylunterkünften stehen. Was wäre im Asylbereich hilfreich für die Früherkennung und Frühintervention?
Wir von Save the Children merken, dass die Sensibilisierung gegenüber den Bedürfnissen von Kindern im Asylbereich stark gestiegen ist. Kinder und ihre Schutzbedürfnisse werden mehr mitgedacht. Und das ist eine Grundvoraussetzung für die Früherkennung, damit man aufmerksam ist für besondere Schutzbedürfnisse.
Aus der Zusammenarbeit mit Asylunterkünften sehen wir gute Praxisbeispiele. So sieht man beispielsweise, dass es einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Kindern hat, wenn man in Zentren Fachpersonen für Kinderbetreuung, Kindergärtner:innen oder Sozialpädagog:innen anstellt. Es ist aber auch wichtig, eine verlässliche Tagesstruktur aufzubauen, die den Kindern eine gewisse Stabilität gibt. Sichere Spielräume, Aktivitäten oder Ausflüge können dazu beitragen, dass es auch für kleinere Kinder einen Alltag mit Ritualen und Rhythmen gibt, an dem sie sich orientieren können.
Manche Unterkünfte arbeiten auch mit einem Bezugspersonen-System. Das macht einen Unterschied, wenn man weiss: Das ist meine Bezugsperson, die nimmt sich Zeit für Gespräche, und die kennt die Familie. Auch der Besuch von Spielgruppen, in der Asylunterkunft oder in der Gemeinde, wäre sehr förderlich für die Früherkennung und wäre eine sehr niederschwellige Intervention. Empfehlenswert – auch in schwierigen Situationen – sind zudem Runde Tische, wo Eltern und Fachstellen miteinbezogen werden und bei denen besprochen wird, welche Unterstützungsmöglichkeiten für die Familien organisiert werden könnten.