Lea Bachmann war kürzlich in Litauen und Teil des Einsatz-Teams von Save the Children für die Unterstützung von ukrainischen Geflüchteten. Im Interview haben wir mit ihr über die konkrete Arbeit vor Ort, den prägenden Moment der Ankunft einer geflüchteten Familie und die Wirkung einer farbenfrohen Atmosphäre auf Kinder gesprochen.

Warum flüchten Familien aus der Ukraine nach Litauen und nicht direkt in ein Nachbarland?

Stand heute sind bereits über 3,1 Millionen ukrainische Personen nach Polen geflüchtet und mehr als 25 000 nach Belarus. Viele von ihnen bleiben jedoch nicht in diesen Ländern, sondern reisen weiter. Einerseits gehen sie beispielsweise zu Familienmitgliedern oder Bekannten, andererseits sehen sie in einem anderen Land bessere Chancen für sich und ihre Kinder. Wenn sie in Litauen ankommen, sind sie meist schon Tage oder gar Wochen unterwegs.

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Über die Grenze Über 3,1 Millionen ukrainische Personen nach Polen geflüchtet und mehr als 25 000 nach Belarus.

In Litauen ist die Sprache – im Gegensatz zu anderen Ankunftsländern – für geflüchtete aus der Ukraine nicht eine allzu grosse Herausforderung. Denn viele Leute sprechen Russisch und die Verständigung ist somit gut möglich. Auch wir achten darauf, dass unsere Mitarbeitenden Russisch oder Ukrainisch sprechen und sich verständigen können. Als Gegenbeispiel ist die Sprache in unseren Schweizer Projekten eine Herausforderung. Hier achten wir darauf, dass die Projekt-Aktivitäten und Angebote für Kinder so aufgebaut sind, dass viel mit Bildern und Illustrationen kommuniziert und somit die Sprachbarriere überwunden wird.

Es gibt unzählige unglaublich traurige Geschichten, eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Eine Mutter kam mit 10 Kindern in einem Registrierungszentrum an. Zwei Kinder waren ihre eigenen. Die anderen acht waren unbegleitete Kinder, die sie auf der Flucht aus der Ukraine in ihre Obhut genommen hatte. Die Mutter war richtig erschöpft, als sie bei uns ankam und brauchte dringend Hilfe bei der Organisation der nächsten Schritte in Bezug auf eine Unterkunft und Kleidung oder für Lebensmittel und Spielsachen für die Kinder. Diese Verzweiflung und Erschöpfung zeigen einem eindrücklich auf, wie dringend notwendig die Hilfe vor Ort ist.

Was geschieht, wenn eine Familie in Litauen ankommt?

Familien aus der Ukraine kommen hier in Litauen meist mit organisierten Bussen und Privatautos an. Ihre erste Anlaufstelle ist eines der sieben Migrationszentren, nicht all diese sind permanent und einige werden in Kürze wieder schliessen. Unsere Teams arbeiten in allen Zentren gemeinsam mit Behörden und anderen Organisationen, um Geflüchtete mit dem Nötigsten zu versorgen, und sie bezüglich ihrer Möglichkeiten für Unterkünfte oder eine Weiterreise in ein anderes Land zu beraten. Hier kommen viele der geflüchteten Familien das erste Mal mit Save the Children in Kontakt. Save the Children ist als Erstkontakt auf Infobroschüren vermerkt, wenn es um Fragen zu Kindern und schwangere Frauen geht.

Welche Unterstützung erhalten Familien mit Kindern und schwangere Frauen konkret?

Schwangere Frauen wenden sich zum Beispiel an uns, wenn sie eine frauenärztliche Untersuchung, eine Hebamme oder Zugang zum nächstgelegenen Krankenhaus brauchen. Wir stellen sicher, dass sie die Informationen erhalten und leiten sie auch an zuständige Behörden weiter. Für Mütter mit Säuglingen haben wir in den Verteilzentren Babyprodukte, wie beispielsweise Babyflaschen, Windeln, Babykleider oder Kinderwagen, die wir abgeben. In Registrationszentren haben wir teilweise eine Ecke eingerichtet, wo sich Mütter zum Stillen und wickeln zurückziehen können.

Familien, die einen Kinderarzt für ihre Kinder brauchen oder wissen möchten, wie ihre Kinder Zugang zu einer Schule erhalten, beraten wir ebenfalls und leiten sie an die zuständigen Stellen weiter.

Was brauchen die Menschen bei der Ankunft am dringendsten?

Ich habe zahlreiche Familien mit Kindern ankommen sehen, nachdem sie tagelang unterwegs waren. Da viele plötzlich und innert Minuten ihr Zuhause verlassen mussten, haben sie fast nichts dabei – es fehlt ihnen also an Hygiene-Artikeln, Kleidern, Lebensmitteln und auch Spielsachen für die Kinder. In den Registrierungszentren selbst, aber auch an verschiedenen Orten im Land haben wir Abgabe-Stationen, wo wir diese notwendigsten Güter verteilen.

Eine dieser Abgabe-Stationen ist zum Beispiel gleich bei unserem Save the Children Büro, wo ich ebenfalls war. An diesem Ort herrschte eine bedrückte Stimmung, die einem nur erahnen lässt, was diese Menschen durchgemacht haben. Hier haben wir eine ukrainische Psychologin eingestellt – eine Frau, die die Ukraine selbst erst kürzlich verlassen hat. Unsere Mitarbeitenden sprechen bei der Abgabe von Gütern mit den geflüchteten Menschen und merken im Gespräch schnell, welche Menschen dringend psychologische Unterstützung brauchen und verweisen sie gleich an die Psychologin. Die Tür zum Sitzungszimmer bei der Psychologin war immer geschlossen, es fanden ständig Gespräche statt. Diese Tatsache spricht Bände.

Es gibt unzählige unglaublich traurige Geschichten, eine ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Eine Mutter kam mit 10 Kindern in einem Registrierungs-zentrum an.

Lea Bachmann Direktorin Philanthropie

Save the Children betreibt kinderfreundliche Räume in Registrierungszenten – wo in den Zentren befinden sich diese genau?

Das hängt davon ab, was für ein Gebäude es ist. Die kinderfreundlichen Räume richten wir aber wenn immer möglich im gleichen Gebäude ein und möglichst nahe bei den Schaltern, wo sich die Eltern um die administrativen Schritte kümmern. So wissen sie, dass ihre Kinder nicht weit weg, sicher und gut betreut sind.

Die kinderfreundlichen Räume sind meist eine etwas abgeschirmte Ecke im Raum, der mit Spielzeug, Malstiften und Büchern ausgestattet ist. Es ist unglaublich emotional zu sehen, wie die Umgebung und die farbenfrohe Atmosphäre auf die Kinder wirken: Sie werden ruhiger, schliessen schnell Freundschaften mit anderen Kindern und können sich in eine Aktivität vertiefen.

Was hat dich während deiner Zeit in Litauen besonders beeindruckt?

Besonders beeindruckt haben mich die Kinder selbst – beispielsweise in einem Tageszentrum für die Betreuung litauischer Kinder. Das ist ein reguläres Projekt in Litauen, wo Kinder aus armen Verhältnissen nach der Schule betreut werden und lernen und spielen können. Durch die vielen Geflüchteten aus der Ukraine haben wir diese Projekte ausgebaut und betreuen in diesen Tageszentren nebst den litauischen auch ukrainischen Kinder. Es war herzerwärmend und wirklich auch beeindruckend zu sehen, wie die Kinder miteinander spielen und lachen. Kinder machen keinen Unterschied zwischen verschiedenen Herkünften oder sehen die unterschiedlichen Sprachen als Barriere. Diese Unbeschwertheit tragen sie in sich, und wir unterstützen sie dabei, diese ausleben zu dürfen. Die kinderfreundliche Umgebung lässt sofort eine fröhliche Kinderstimmung aufkommen.