Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz - zu dem auch Save the Children gehört - lanciert heute seine Kampagne «Kinder haben Rechte!». Sie soll die Bevölkerung und die Politik für das Thema sensibilisieren. Gleichzeitig integriert das Netzwerk erstmals beim Berichterstattungsverfahren an den UN-Kinderrechtsausschuss die Sicht von Kindern und Jugendlichen zum Aufwachsen in der Schweiz und die Verwirklichung ihrer Rechte in einem «Kinder- und Jugendbericht». Er wird diese Woche zusammen mit dem NGO-Bericht dem UN-Kinderrechtsauschuss in Genf vorgestellt. Dieser zeigt, dass die Schweiz noch einen weiten Weg gehen muss, bis die Kinderrechte vollständig umgesetzt sind.

Der NGO-Kinderrechtsbericht wurde am 8. Juni mit Beteiligung von Save the Children der Öffentlichkeit vorgestellt. 

Die Berichte als Download

Vierter NGO-Bericht an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes. pdf - 6,28 MB

Kinder und Jugendliche in der Schweiz reden zu Recht mit. Kinderrechtsbericht an den UN-Kinderrechtsausschuss. pdf - 6,69 MB

Aussagekräftige und desaggregierte Daten sind wichtig. Nur so können Lücken, Missstände und eine mögliche Diskriminierung von bestimmten Kindergruppen erkannt und gezielt behoben werden. Unterschiedliche kantonale Begriffe und Konzepte zur Datenerhebung zu wichtigen Kinderrechtsthemen erschweren die Vergleichbarkeit. Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz, zu dem auch Save the Children Schweiz gehört, fordert deshalb schweizweit vergleichbare Daten. Diese sollen Auskunft über Schutz, Entwicklung und Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz geben.

«Kantönligeist» auf Kosten der Kinder

Viele Kinderrechtsanliegen, darunter der Kindesschutz, sind Aufgabe der Kantone. Im Bericht zur Umsetzung der Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschusses von 2015 erachtete der Bundesrat eine koordinierte Vorgehensweise zwischen den zuständigen kantonalen Fachpersonen bei Interventionen im Kindesschutz als vordringlich. Dies ist nicht in allen Kantonen gewährleistet. Die vorgesehenen Massnahmen gehen allerdings zu wenig weit und die nötigen finanziellen und personellen Mittel fehlen bis heute. Eine umfassende Strategie zum Schutz von Kindern vor Gewalt möchte der Bundesrat nicht. Was faktisch bedeutet, dass der Wohnort und der sozioökonomische Familienhintergrund entscheiden, ob Kinder und ihre Eltern auf niederschwellige Unterstützungsangebote zurückgreifen können und ob sie bei einer Kindeswohlgefährdung zeitnah und kompetent Hilfe erhalten. Kinder und Jugendliche sollen ihre Rechte aber gesamtschweizerisch im gleichen Umfang wahrnehmen können. Es braucht eine nationale Strategie für die Bereiche Gewaltprävention, Zugang zu Unterstützungsangeboten für Familien, Qualität der Heimunterbringung und von Pflegeplätzen.

Kinder müssen angehört werden

Kinder sind in vielen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren mitbetroffen. Das Partizipationsrecht des Kindes nach Art. 12 UN-KRK muss in sämtlichen Verfahren (z.B. Scheidungen, Eheschutz) gewährleistet sein. Bislang werden die Kinder längst nicht in allen Verfahren angehört, obwohl dies bei familienrechtlichen Verfahren im Zivilgesetzbuch explizit gefordert ist. Mit der gemeinsamen elterlichen Sorge als Regelfall nimmt der Druck auf die Kinder zu, den Anliegen beider Eltern entsprechen zu müssen. Auch sind die Vorstellungen der Gerichte von günstigen familiären Entwicklungsbedingungen oft konservativ und die (Bindungs-)Bedürfnisse sowie Äusserungen der Kinder werden ignoriert. Bislang fehlt eine Stelle, an die sich Kinder wenden können, wenn sie in Verfahren nicht beteiligt sind, ungehört bleiben oder ihre Rechte anderweitig verletzt werden. Das Parlament hat einen Vorstoss überwiesen, der die Schaffung einer Ombudsstelle für Kinder verlangt. Auch in Asyl- und migrationsrechtlichen Verfahren ist das Recht auf Verfahrensbeteiligung ungenügend gewährleistet.

260’000 Kinder leben an der Armutsgrenze

In der Schweiz sind gemäss dem Bundesamt für Statistik 108’000 Kinder direkt von Armut betroffen, weitere 155’000 leben in prekären Verhältnissen, nur knapp oberhalb der Armutsgrenze.2 Kinder, die in Armut aufwachsen, erleben materielle Benachteiligung, soziale Ausgrenzung und haben schlechtere Bildungschancen – schlechtere Startchancen können aber später nicht mehr wettgemacht werden. Die Kinder bleiben häufig bis ins Erwachsenenalter arm.3 Für die Kinderarmut verantwortlich sind hohe Unterhaltskosten, tiefe Einkommen der Eltern und mangelnde Möglichkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren. Damit Kinder nicht in Armut aufwachsen, müssen benachteiligte Familien in der ganzen Schweiz gestärkt werden. Es braucht deshalb flächendeckende Familienergänzungsleistungen. Einige Kantone haben dies bereits erfolgreich eingeführt.

Geflüchtete Kinder haben es besonders schwer

Besonders schwer haben es geflüchtete Kinder. Die kinder- und familiengerechte Unterbringung von geflüchteten Kindern ist nicht überall gewährleistet. Es fehlt an kindgerechten Räumen, Förder- und Spielmöglichkeiten für jüngere Kinder sowie an Unterstützung für Eltern mit Kindern in den Asylzentren. Mehr als die Hälfte der minderjährigen Asylsuchenden leidet an psychischen Belastungen. Geflüchtete Kinder sind auch beim Zugang zur Bildung stark benachteiligt. Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz fordert deshalb, dass Bund und Kantone die familien- und kindgerechte Unterbringung und Betreuung von geflüchteten Kindern sicherstellen müssen. Dafür braucht es verbindliche Richtlinien und eine regelmässige Überprüfung. Ausserdem sollen geflüchtete Kinder von niederschwelligen psychosozialen Angeboten profitieren können. Geflüchtete Kinder sollen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatuts von obligatorischen und nachobligatorischen Bildungsangeboten profitieren können.

Gewalt ist in Schweizer Familien Alltag

Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention besagt, dass Gewalt gegenüber Kindern in keiner Weise gerechtfertigt ist. Trotzdem erlebt heute die Hälfte aller Kinder in der Schweiz physische und/oder psychische Gewalt in der Erziehung, jedes fünfte Kind erlebt sogar schwere Gewalt. Die Schweiz kennt – im Gegensatz zu vielen europäischen Nachbarstaaten – kein explizites Verbot von Gewalt in der Familie. Bei der Prävention und Früherkennung von Gewalt gibt es zudem grosse Unterschiede zwischen den Kantonen in den Angeboten und Leistungen. Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung muss deshalb im Zivilgesetzbuch verankert werden. Zudem braucht es ein verstärktes Engagement des Bundes zur Kind- und Jugendhilfe und dem Kinder- und Jugendschutz.

Hintergrund

Berichterstattungsverfahren an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes

Vertragsstaaten der UN-Kinderrechtskonvention müssen dem UN-Kinderrechtsausschuss in regelmässigen Abständen berichten, wie die Konvention umgesetzt wird. Artikel 44 der Konvention verlangt, dass Vertragsstaaten dem Ausschuss zwei Jahre nach der Ratifizierung einen Erstbericht zum Stand der Umsetzung vorlegen. Danach ist alle fünf Jahre ein Folgebericht vorgesehen. Der UN-Kinderrechtsausschuss prüft, wie es um die Einhaltung der Kinderrechte im Vertragsstaat steht und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Informationsquellen des Ausschusses sind der offizielle Bericht der Regierung und ergänzende Berichte der Zivilgesellschaft (NGO-Bericht, inkl. Beteiligung von Save the Children). Zudem hört der Ausschuss Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft und des Staates direkt in Genf an und formuliert anschliessend Empfehlungen, wie die Kinderrechte besser umzusetzen sind.

Kinder- und Jugendbericht (Pilotprojekt zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen)

Gemäss Artikel 12 der KRK haben Kinder ein Recht, gehört zu werden und mitreden zu können. Bisher waren Kinder und Jugendliche in der Schweiz bei der Berichterstattung an den UN-Kinderrechtsausschuss allerdings nicht involviert, obwohl sie die Expertinnen und Experten ihrer eigenen Lebensumstände sind. Das Netzwerk Kinderrechte Schweiz hat deshalb im Jahr 2018 das Pilotprojekt «Kinder- und Jugendbeteiligung im Berichtsverfahren an den UN-Kinderrechtsausschuss» gestartet, um Kindern und Jugendlichen erstmals auch in der Schweiz eine Stimme zu geben.

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