Ein Interview mit der Kinderrechtsexpertin Judith Wyttenbach über Kinder- und Menschenrechte und ihre Bedeutung für die Schweiz.

Zur Person: Prof. Dr. Judith Wyttenbach ist Ordinaria für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern. Sie ist Mitglied des wissenschaftlichen Ausschusses des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bern.

Frau Wittenbach, woher stammt die Erkenntnis, dass Kinder besonderen Schutz brauchen?

Diese Idee ist schon relativ alt. Spätestens im bürgerlichen Zeitalter herrschte die Vorstellung, dass Staat und Kirche gewisse Verpflichtungen haben und die Kinder schützen müssen. Der Schutzaspekt stand dabei zunehmend im Vordergrund: Das Kind wurde als schutzbedürftig und verletzlich angesehen, als Objekt staatlicher Fürsorge. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich dieses Bild. Die Kinderrechtsbewegung, die einen anderen Ansatz verfolgte, entstand. Sie sah das Kind als Individuum, als RechtsträgerIn an. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und später die Uno-Kinderrechtskonvention haben diesen Trend noch verstärkt. Es gab also einen Perspektivenwechsel: Von einer Schutzperspektive hin zu einer immer stärkeren Individualrechtsperspektive, wie sie in der Uno-Kinderrechtskonvention enthalten ist, die die Schweiz 1997 ratifiziert hat.

Auf welchen Grundlagen werden Kinder in der Schweiz rechtlich geschützt?

Artikel 11 der Bundesverfassung besagt, dass Kinder und Jugendliche Anspruch auf besonderen Schutz haben – das ist eine Bestimmung, die wir von der alten Bundesverfassung von 1874 so nicht kannten. Als die neue Bundesverfassung konzipiert und 1998 im Parlament beraten wurde, gab es im Entwurf des Bundesrats keinen Vorschlag für eine solche Norm. Die  Kinderrechtsorganisationen betrieben dann Lobbying, und im Verlauf der parlamentarischen Beratung kam dieser Kinderschutzartikel in den Verfassungstext. Das war allerdings sehr umstritten.

Weshalb?

Es gab Parteienvertreter, die der Meinung waren, eine Kinderrechtsbestimmung würde die Autonomie der Eltern in der Erziehung unterhöhlen, sie sei ein Eingangstor für mehr staatliche Kompetenzen zur Beschränkung der Elternrechte und zur Definition, was gute Erziehung sei. Ein Nationalrat rief während der Debatte, „lassen Sie uns unsere Kinder gefälligst selber erziehen!“ Trotz dieser Widerstände wurde die Kinderrechtsbestimmung aufgenommen. Letztlich haben sich jene durchgesetzt, die der Meinung waren, dass Kinder Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf eigenständige Rechtsausübung haben. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass sowohl die EMRK als auch die Uno-Kinderrechtskonvention grossen Wert auf das Erziehungsrecht der Eltern legen. Die Uno-Kinderrechtskonvention hält fest, dass die Eltern grundsätzlich am besten wissen, was gut ist für ihre Kinder, und die Bindungen zwischen Eltern und Kindern schützt.

Es ist eine Grundproblematik des Kindsschutzes, dass der Staat die Kinder vor ihren eigenen Eltern schützen muss.

Ja, das ist so. Aber das macht der Staat natürlich nicht erst seit 1997, als die Uno-Kinderrechtskonvention ratifiziert wurde. Bereits im 19. Jahrhundert hatten die Kantone in ihren alten Zivilgesetzbüchern teilweise Bestimmungen zum Schutz von Kindern. Mit dem einheitlichen Zivilgesetzbuch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Grundsätze des Kindsschutzes dann auf Bundesebene geregelt.

Die Schweiz hat nicht alle Kinder gleich gut behandelt – bis in die 70er Jahre wurden Kinder ihren Eltern weggenommen, Stichwort administrative Verwahrungen. Was hat sich in diesem Bereich getan in den vergangenen Jahrzehnten?

Die Arbeit des Staates musste transparenter werden. Das geschah etwa, indem man den Rechtsschutz verstärkte und die Kinder- und Jugendschutzbehörden professionalisierte und regionalisierte. Man kam weg vom Milizprinzip in den Gemeinden. Heute ist die Öffentlichkeit auch viel stärker sensibilisiert auf die Frage, wie weit der Staat gehen darf – aus der Perspektive der Kinderrechte, nicht nur aus Perspektive seines Fürsorgeauftrags. Früher ging es im Kindesschutz auch um Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung; man trennte beispielsweise Kinder von Eltern, wenn diese eine Lebensweise führten, die von den Mehrheitsvorstellungen abwich, oder wenn sie einen damals als „unmoralisch“ eingestuften Lebenswandel pflegten, etwa bei jungen Müttern, die „unehelich“ geboren hatten. Die Ratifikation der Kinderrechtskonvention, aber auch die EMRK haben dazu beigetragen, dass man heute eine andere Perspektive einnimmt – zu Recht.

Wie haben die Uno-Kinderrechtskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention die Rechtsprechung in der Schweiz beeinflusst?

Das Bundesgericht beruft sich regelmässig auf die Uno-Kinderrechtskonvention. Es hat verschiedentlich festgehalten, dass einige Artikel direkt anrufbar sind, zum Beispiel das Recht auf Kenntnis der eigenen Herkunft in Artikel 7 der Kinderrechtskonvention. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung herangezogen, um abzuwägen zwischen dem Adoptionsgeheimnis und dem Recht eines Kindes auf Kenntnis seiner eigenen Herkunft. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist Artikel 12 der Konvention, das Recht auf Anhörung. Das Bundesgericht hat festgehalten, dass diese Norm direkt anrufbar ist und grundsätzlich in jedem Verfahren gilt, das Kinder betrifft. Verwaltungsverfahren, Zivilverfahren, Strafverfahren – ein Kind muss angehört werden, wenn es urteilsfähig ist. Ein letztes Beispiel ist der Anspruch, nicht von den Eltern getrennt zu werden, soweit das möglich ist. Es ist ein individueller Anspruch des Kindes – nicht nur der Anspruch der Eltern, nicht von ihrem Kind getrennt zu werden. In Bezug auf die EMRK ist es etwas schwieriger festzumachen, weil sie keine expliziten Kinderrechte, sondern allgemein formulierte Rechte enthält. Es liegt am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg und an den nationalen Gerichten, die Menschenrechte in der EMRK in Bezug auf die besondere Situation und die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu konkretisieren. Das macht es etwas schwieriger für die Gerichte in den Mitgliedsstaaten, hier griffige Anleitungen für Kinderrechte herauszusuchen.

Die EMRK ist eine Menschenrechtskonvention, keine Kinderrechtskonvention. Welche EMRK-Bestimmungen kommen zur Anwendung, wenn es um Kindsschutz geht?

Artikel 8 ist mit Abstand der wichtigste, wenn es um Fälle aus der Schweiz geht: er enthält das Recht auf Privat- und Familienleben. Weiter wichtig sind die Verfahrensgrundrechte. Artikel 6 der EMRK garantiert das Recht auf ein faires Verfahren und den Zugang zu einem Gericht, das steht auch Kindern und Jugendlichen zu. Auch die Religionsfreiheit kann eine Rolle spielen.

Über Kinderarmut und ihre Auswirkungen wissen wir noch viel zu wenig. Bei den Rechten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt es auch Verbesserungspotenzial.

Prof. Dr. Judith Wyttenbach Ordinaria für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern

Welche Bedeutung hat der EGMR für Schweizer Fälle, die Kinder betreffen?

Die Institution ist zunehmend wichtig, würde ich sagen. Es werden zwar nur sehr wenige der Beschwerden, die in Strassburg eingereicht werden, auch gutgeheissen. Aber weil der EGMR insbesondere seit den letzten 10 Jahren zunehmend eine Kinderrechtsperspektive einbezieht, beschäftigt sich auch das Bundesgericht verstärkt mit diesen Fragen.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Die Frage nach der Ausweisung ausländischer Personen etwa. Welche Güterabwägung muss man machen, wenn man einen Vater oder eine Mutter aus der Schweiz ausweist, das Kind aber hier aufgewachsen und verankert ist, vielleicht auch Schweizerin oder Schweizer ist? Für das Recht auf Familienleben ist auch das Wohl der Kinder ein Aspekt, der in diesen Fällen vom EGMR berücksichtigt wird.

Viele Schweizer Fälle am Gerichtshof in Strassburg bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Kindsschutz und Ausländerrecht. Wie wägt man da ab?

Die Kinderrechtskonvention der Uno verlangt, dass das Wohl des Kindes in allen Angelegenheiten ein vorrangiger Faktor sein muss. Vorrangig heisst: sehr wichtig, aber nicht absolut ausschlaggebend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verwendet ähnliche Formulierungen, auch für ihn ist das Kindswohl ein wichtiger Faktor. Der EGMR beurteilt immer Einzelfälle und prüft zum Beispiel nach, ob ein Mitgliedstaat eine sorgfältige Abwägung der Interessen vorgenommen hat. Also: Was ist zum Beispiel im Fall einer strafrechtlichen Landesverweisung höher zu gewichten, öffentliche Sicherheitsinteressen oder das Interesse der Familie und insbesondere der Kinder auf Wahrung ihres Privat- und Familienlebens? Beschwerden gegen die Schweiz können in Strassburg auch scheitern – etwa, wenn der auszuweisende Elternteil keine tatsächlichen Kontakte zu seinem Kind pflegt. Wenn aber eine enge, gelebte Bindung über mehrere Jahre besteht und die Kinder noch schulpflichtig sind, wenn ihnen nicht zugemutet werden kann, mit dem Vater oder der Mutter ins Ausland zu gehen, dann sind das Faktoren, die einzubeziehen sind. Ebenfalls spielt eine Rolle, wie schwerwiegend die Straftat ist, welche die Person begangen hat, die aus der Schweiz ausgewiesen werden soll.

Ist die EMRK noch aktuell? Die Gesellschaft hat sich enorm verändert, seit die Konvention 1950 verfasst wurde.

Ich finde nicht, dass die EMRK veraltet ist. Ein Beispiel: Artikel 8, das Recht auf Privat- und Familienleben, ist sehr offen formuliert. Die EMRK gibt Grundansprüche vor, die man dynamisch auf neue Entwicklungen anwendet, und das ist richtig so. Der Menschenrechtsgerichtshof musste sich plötzlich mit Fragen auseinandersetzen, die vor zwanzig Jahren noch gar kein Thema waren, etwa mit der Leihmutterschaft. Überhaupt denke ich, dass Fälle der Fortpflanzungsmedizin den Gerichtshof zunehmend beschäftigen werden.

Gibt es in der rechtlichen Situation von Kindern in der Schweiz irgendwo noch Mängel?

Im Bereich der sozialen Rechte durchaus. Über Kinderarmut und ihre Auswirkungen wissen wir noch viel zu wenig. Bei den Rechten von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gibt es auch Verbesserungspotenzial. Mit der Unterzeichnung der Uno-Behindertenrechtskonvention hat die Schweiz verdeutlicht, dass sie weitere Fortschritte für Kinder mit Behinderungen erzielen möchte.

Stärkt die Einbindung der Schweiz in internationale Menschenrechtssysteme wie zum Beispiel die EMRK die Position von Kindern?

Ja, auf jeden Fall. Sie geben einem Individuum die Möglichkeit, sich nicht nur auf die Bundesverfassung zu berufen, sondern auch auf internationale Konventionen, sei es nun die EMRK, die Uno-Kinderrechtskonvention oder andere Konventionen mit justiziablen Bestimmungen. Auch der politische Dialog ist wichtig: Die Schweiz ist angehalten, regelmässig Rechenschaftsberichte zu schreiben, sogenannte Staatenberichte. Vor dem Uno-Kinderrechtsausschuss muss sie dann Fragen beantworten zur Rechtslage und zur Praxis in der Schweiz. Wenn der Ausschuss eine Empfehlung abgibt, ist das zwar nicht bindend für die Schweiz. Aber es hat zur Folge, dass wir uns mit dem Thema auseinandersetzen müssen, und das bringt die Diskussion um Kinderrechte weiter. Auch die Bundesverfassung von 1999 wurde vom internationalen Regelwerk beeinflusst – nicht zuletzt auch der EMRK.