Save the Children setzt seit vielen Jahren Projekte zur Stärkung der Kinderrechte in Asylunterkünften um. Auch in Kollektivunterkünften, in denen Familien teilweise über viele Jahre von Nothilfe leben. Die aktuelle Studie der Eidgenössischen Migrationskommission zur prekären Situation von Kindern in der Nothilfe zeigt, wie wichtig es ist, strukturelle Veränderungen so rasch wie möglich umzusetzen. Gleichzeitig benötigt es Angebote für Kinder und Familien, die sich hier und jetzt in dieser schwierigen Lebenssituation befinden. Unser Mitarbeiter Serge Ducrocq arbeitet als erfahrener Sozialpädagoge partizipativ mit Menschen in der Nothilfe – und das mit Erfolg.

Serge, du hast in den letzten Jahren in verschiedenen Kollektivunterkünften mit Eltern und Mitarbeitenden zusammengearbeitet. Kannst du uns von erfolgreichen Ansätzen erzählen, um Eltern trotz ihrer schwierigen Lebensumstände in der Nothilfe einzubinden?

Das Wichtigste in meiner Arbeit ist es, alle Beteiligten einzubinden. Nicht nur Eltern, sondern auch Mitarbeitende, Freiwillige, Pflegefachpersonen, Seelsorgende oder andere Akteur:innen. Sie alle lade ich ein, ihre Anliegen und Ideen einzubringen. Für alle organisiere ich Workshops mit der zentralen Frage: «Was sind die fünf wichtigsten Bedürfnisse, die Kinder hier haben?» Der geteilte Fokus auf die Kinder ist sehr verbindend. Gemeinsam analysieren wir, welche Bedürfnisse bereits erfüllt sind und wo noch Handlungsbedarf besteht.

Dabei ist es wichtig, nicht nur die Herausforderungen zu benennen, sondern auch die vorhandenen Ressourcen und bereits erzielten Erfolge hervorzuheben. Die Moderation durch Save the Children lenkt den Blick auf realistische Möglichkeiten, ohne überzogene Erwartungen zu wecken. Der ständige Fokus auf die Kinder hilft, den Überblick zu behalten und sich nicht von der Fülle der Probleme in der Nothilfe überwältigen zu lassen.

So werden konkrete Anliegen formuliert, wie der Bedarf nach einem Spielbereich drinnen oder draussen, nach Spielzeug oder Schwimmkursen. In einem Folgegespräch steht dann die Frage im Mittelpunkt: «Was kann ich selbst dazu beitragen?» Gemeinsam werden praktische Lösungen entwickelt, wie beispielsweise die Suche nach Spielsachen auf Online-Plattformen oder in Secondhand-Läden. Auch räumliche Veränderungen können Teil der Massnahmen sein.

Die Lebenssituation in Kollektivunterkünften der Nothilfe ist ja oft sehr prekär. Die Familien haben einen negativen Asylentscheid. Werden durch partizipative Ansätze nicht unerfüllbare Hoffnungen bei den Eltern geschürt?

Vielfach haben Fachpersonen Angst vor Partizipation, weil sie befürchten, unrealistische Erwartungen zu wecken. Meine Erfahrung zeigt allerdings das Gegenteil: Es ist immer wieder erstaunlich, wie klar Eltern unterscheiden können, welche Wünsche in diesem Rahmen realisierbar sind und welche nicht. Bei der partizipativen Arbeit ist oftmals der Weg das Ziel. Natürlich geht es darum, konkrete Verbesserungen für Kinder und Familien und alle Beteiligten zu erreichen. Aber es geht auch ganz stark darum, dass gerade geflüchtete Eltern wieder mehr zu Gestalter:innen ihres Familienlebens werden können – sei es beim Abholen eines Fahrrads, beim Streichen einer Wand, beim Organisieren von Kleidung oder beim Umgang mit psychischen Belastungen bei sich und den Kindern.

Bei deiner Arbeit in diesen Zentren bist du sicher auf einige Hindernisse gestossen. Welche konkreten organisatorischen oder strukturellen Probleme hast du erlebt, die es Eltern erschwert haben, sich zu beteiligen? Wie bist du damit umgegangen?

Die Umsetzung partizipativer Ansätze in der Arbeit mit geflüchteten Eltern ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, dass nicht alle im partizipativen Prozess identifizierten Bedürfnisse realisierbar sind. So können z.B. strukturelle Rahmenbedingungen den Wunsch nach dem Besuch einer «normalen» Schule unmöglich machen. Vor diesem Hintergrund ist das Erwartungsmanagement ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Sprachbarrieren und fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind weitere Hindernisse für eine effektive Teilnahme an partizipativen Workshops. Zudem erschwert die Fluktuation in der Gruppe der Teilnehmenden, bedingt durch Transfers, Rückführungen und auch Krankheiten wie Depressionen, die Kontinuität der Arbeit erheblich.

Eine andere Hürde ist der Beziehungsaufbau. Als Vertreter:innen von Save the Children sind wir nur punktuell vor Ort und können kein langfristiges Vertrauensverhältnis zu den geflüchteten Eltern aufbauen. Das erschwert die Realisierung zeitintensiver Projekte, wie etwa die Errichtung eines neuen Spielplatzes. Ohne kontinuierlichen persönlichen Kontakt ist es anspruchsvoll, die Motivation der stark belasteten Eltern über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, zumal sie parallel mit vielen anderen Herausforderungen konfrontiert sind.

Unsere Arbeit hängt daher wesentlich von der Unterstützung des gesamten Teams und der Freiwilligen ab, die die Eltern motivieren und begleiten können. Allerdings stehen die Mitarbeitenden oft selbst unter grossem Druck, was die Organisation von partizipativen Treffen zusätzlich erschwert. Zudem stehen sie in einer Doppelrolle von Hilfe und Kontrolle. In diesem Kontext ist es wichtig, Geduld zu haben, auf die Möglichkeiten der Teilnehmenden Rücksicht zu nehmen und zu akzeptieren, dass Veränderungen Zeit brauchen.

Weshalb lohnt sich die partizipative Arbeit mit Eltern in diesen Zentren trotz den Herausforderungen?

Fluchterfahrungen und das Leben in Kollektivunterkünften sind oft mit Ohnmacht und Handlungseinschränkungen verbunden. Partizipative Ansätze durchbrechen dieses Muster grundlegend. Sie ermöglichen den Eltern eine aktive Mitgestaltung und vermitteln das Gefühl: «Ich kann selbst etwas bewirken in diesem ansonsten fremdbestimmten Umfeld». Diese Erfahrung kann zu einer verbesserten Gesamtatmosphäre in der Unterkunft beitragen.

Auch wenn nicht jeder partizipative Prozess zu einer konkreten Lösung führt, ist es essenziell, den Eltern Raum für ihre Stimme und ihre Anliegen zu geben. Allein das Gehört-Werden ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung ihrer Elternrolle und ihres Selbstwertgefühls.

Das Gehört-Werden ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung der Position und des Selbstwertgefühls der Eltern.

Serge Ducrocq Fachperson Schweizer Programme bei Save the Children

Was war ein persönliches Highlight für dich in deiner Arbeit?

Partizipation hat das Potenzial, bestehende Barrieren abzubauen und ein inklusives Netzwerk zu schaffen, das Eltern, Freiwillige und Mitarbeitende gleichermassen einbezieht. Ein Beispiel hierfür ist eine Nothilfeunterkunft, in der die Freiwilligen anfangs den Kontakt zu den Mitarbeitenden und der Betreuungsorganisation mieden. Durch partizipative Austauschformate konnte diese Distanz überwunden werden. Als Folge dieser Annäherung planen nun alle Beteiligten gemeinsam jahreszeitliche Feste, die neue Formen der Begegnung ermöglichen.

Letztlich helfen partizipative Ansätze, alle Beteiligten daran zu erinnern: Wir wollen alle das Bestmögliche für die Kinder. Wir sitzen im selben Boot. Und durch partizipative Aktivitäten finden wir Wege, in die gleiche Richtung zu rudern.

Vielen Dank für das Gespräch, Serge!

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