Geflüchtete Kinder, Jugendliche und Familien sind besonders verletzlich. Um die oftmals hoch belastenden Lebenserfahrungen bewältigen zu können, brauchen sie sichere Räume. Das Konzept der «sicheren Räume» stammt aus der Traumapädagogik. Dabei gilt es, konkrete räumliche Bedingungen zu schaffen, in denen sich Menschen geschützt und aufgehoben fühlen und die Orientierung und Verlässlichkeit bieten. Diese äusseren Rahmenbedingungen schaffen den Boden dafür, dass mit der Zeit auch wieder ein psychologisches Sicherheitserleben entstehen kann. Wir haben Fachpersonen gefragt, wie solche sicheren Räume für geflüchtete Rom:nja, Kinder und Eltern geschaffen werden können.

Sichere Räume für geflüchtete Rom:nja

Interview mit Stéphane Laederich, Direktor der Rroma Foundation

Aufgrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine sind Menschen, die sich als Rom:nja (umgangssprachlich Roma) identifizieren, in die Schweiz geflüchtet. In der Praxis lässt sich seither beobachten, dass der Umgang mit Rom:nja-Familien in Asylunterkünfte viele Akteur:innen vor Herausforderungen stellt. Die Bandbreite der Themen reicht von Kindesschutzfragen bis zu offenem Rassismus. Die Situation ist für alle Beteiligten komplex. Wir haben bei Stéphane Laederich, Direktor der Rroma Foundation, nachgefragt, was Asylunterkünfte in dieser Situation tun könnten.

Herr Laederich, welche Herausforderungen haben geflüchtete Rom:nja im Schweizer Asylwesen zu bewältigen?

Zunächst ist es wichtig zu klären, von welchen Rom:nja wir sprechen. Die aktuelle, pauschalisierende Diskussion über die «schwierigen Roma» in der Schweiz bezieht sich auf eine spezifische Gruppe – Rom:nja aus Transkarpatien in der Westukraine, einem Gebiet von der Grösse des Kantons Zürich.

Die Geschichte und die Lebensbedingungen der transkarpatischen Rom:nja sind in vielerlei Hinsicht atypisch für die Ukraine. Während viele Rom:nja in die ukrainische Mehrheitsgesellschaft integriert und nicht als solche erkennbar sind, nicht in der Ukraine, nicht in der Schweiz, sind transkarpatische Rom:nja weitgehend ausgegrenzt worden. Seit dem 18. Jahrhundert durften sie sich nicht in Dörfern niederlassen und leben seither in geschlossenen Siedlungen.

Eine der grössten Herausforderungen in der Schweiz ist die Anpassung an die moderne Welt.

Stéphane Laederich Direktor der Rroma Foundation

Auch der Gebrauch des Romanes wurde ihnen damals verboten, so dass sie heute vor allem Ungarisch sprechen. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren die Rom:nja zudem ihre Arbeit in den Kolchosen und Fabriken. Die daraus resultierende Arbeitslosigkeit verschärfte ihre ohnehin prekäre soziale Lage. Viele konnten keine Schule besuchen und lernten weder Ukrainisch noch Russisch, was ein Versagen des Staates ist.

Ihre Lebensverhältnisse sind bis heute äusserst rudimentär – ohne Zentralheizung, fliessendes Wasser oder moderne Sanitäranlagen. Ihre Situation entspricht eher dem 19. als dem 21. Jahrhundert. Eine der grössten Herausforderungen in der Schweiz ist daher die Anpassung an die moderne Welt ohne Adaptionszeit. Zum Beispiel das Wohnen in einer Mietwohnung, die briefliche Korrespondenz oder die Integration von Kindern, die nie eine Schule besucht haben, in das reguläre Schulsystem. Das ist alles andere als trivial. Aber: Es ist kein «Roma-Problem», sondern ein soziales. Es sind zwar Rom:nja, aber die vielen Kinder, die Armut sind kein Rom:nja-Merkmal, sondern das Ergebnis von gescheiterter Assimilation und Repression.

Impressionen aus der Kijuma Redaktion

Im Austausch mit Save the Children in Rumänien oder Polen hören wir, dass sich viele geflüchtete Rom:nja sichere Räume wünschen, in denen sie nicht diskriminiert werden. Wie können diese entstehen?

In erster Linie geht es um Wissensvermittlung, denn die Mitarbeiter:innen in Asylzentren haben keine Kenntnisse über die Geschichte Osteuropas. Sie gehen fälschlicherweise davon aus, dass transkarpatische Rom:nja keine Ukrainer:innen sein können, nur weil sie Ungarisch sprechen. Um ihre Situation richtig einordnen zu können, muss jedoch der historische Kontext erklärt werden. Es geht hier um sozioökonomische Benachteiligung, nicht um ethnische Zugehörigkeit. Diese Aufklärungsarbeit leisten wir. Nur wenn die Hintergründe verstanden werden, können sichere diskriminierungsfreie Räume für geflüchtete Rom:nja entstehen. Viele Kinder transkarpatischer Rom:nja haben aufgrund ihrer Lebenssituation noch nie eine Schule besucht.

Viele Kinder transkarpatischer Rom:nja haben aufgrund ihrer Lebenssituation noch nie eine Schule besucht.

Für sie kann eine vorübergehende Separierung in Form von Vorbereitungsklassen sinnvoll sein, um sie gezielt auf den Übergang in den Regelunterricht vorzubereiten. Abgesehen von solchen temporären Massnahmen gibt es jedoch keinen Grund für eine dauerhafte Separation, zum Beispiel durch abgetrennte Bereiche in Asylzentren. Im Gegenteil: Nur eine Durchmischung kann Ressentiments und Rassismus entgegenwirken.

Sichere Räume für geflüchtete Kinder

Interview mit Lara Künzler, Fachberaterin Nationale Programme, Save the Children

Warum braucht es kinderfreundliche Räume in Asylunterkünften?

Durch die Flucht verlieren Kinder ihre vertraute Umgebung, einen verlässlichen Tagesablauf und die Gewissheit über ihre Zukunft. Umso wichtiger ist es, ihnen kleine Inseln der Sicherheit und Geborgenheit zu bieten. Unsere kinderfreundlichen Räume tragen diesem Bedürfnis Rechnung. Sie geben Kindern in ihren unbeständigen Lebenssituationen Halt, fördern ihr psychosoziales Wohlbefinden und ermöglichen eine gesunde Entwicklung – auch unter erschwerten Bedingungen.

Was macht diese Räume sicher und traumasensibel?

Verlässliche Strukturen: Durch feste Zeitabsprachen und – im Idealfall – ein beständiges Fachteam entsteht ein verbindliches Beziehungsangebot.

Wiederholung: Statt stetiger Veränderung bleibt möglichst viel gleich. Die Mitarbeitenden erarbeiten Routinen im pädagogischen Ablauf, insbesondere um den Beginn und den Abschluss des Programms zu markieren. Ein Kreisritual beispielsweise zeigt den Kindern, dass jedes von ihnen einen festen Platz in der Gruppe hat und mit dem Namen wahrgenommen wird. Dies vermittelt Orientierung und Wertschätzung.

Es ist wichtig, Kindern kleine Inseln der Sicherheit und Geborgenheit zu bieten.

Lara Künzler | BA in Vermittlung von Kunst und Design, Ästhetische Bildung und Soziokultur mit CAS Erwachsenenbildung in den Künsten und im Design mit eidg. Fachausweis Ausbildnerin SVEB. 
Lara Künzler Fachberaterin Nationale Programme

Selbstbestimmtes Spiel: Die gesamte Einrichtung ist auf freies, selbstbestimmtes Spiel ausgelegt: Spielboxen sind auf Kinderhöhe angebracht und mit Piktogrammen gekennzeichnet. Für verschiedene Altersgruppen bestehen verschiedene Spielelemente, am Boden, am Tisch oder für die freie Bewegung. So können sich die Kinder selbstständig zurechtfinden und frei entscheiden, wie sie ihre Zeit gestalten möchten – das stärkt ihre Selbstwirksamkeit.

Hier und Jetzt: Mit traumasensiblen Übungen wie Atem-, Sinnes- oder Bewegungsübungen können Kinder unterstützt werden, sich von Stress und belastenden Erlebnissen der Vergangenheit zu lösen und in der Gegenwart anzukommen.

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Sicherheit: Räume, in denen Kinder einfach Kind sein können, sind wichtig – unabhängig davon, ob es sich um ein humanitäres Krisengebiet oder eine Schweizer Asylunterkunft handelt. Hier müssen Kinder keine Verantwortung für Angehörige übernehmen – weder als Übersetzer:innen noch als Betreuer:innen für jüngere Geschwister. Stattdessen können sie auftanken, Spass haben und zur Ruhe kommen.

Sichere Räume für geflüchtete Eltern

Interview mit Dr. Rebecca Mörgen, HSLU Soziale Arbeit und Dr. Alex Knoll, ZHAW Soziale Arbeit

Ihr habt ein Forschungsprojekt zu «Psychosozialen Faktoren im Alltag von geflüchteten Kindern in Kollektivzentren" durchgeführt. Wie müssen wir uns das Projekt vorstellen?

Rebecca Mörgen: Es gibt bisher in dem Bereich wenig Forschung, vor allem was die Perspektive der Geflüchteten selbst auf ihr Leben und ihren Alltag in Kollektivzentren betrifft. Nach einer Flucht und in der Asylunterkunft ist einerseits die Unterstützung der Kinder seitens ihrer Eltern essenziell. Gleichzeitig sind die Eltern aufgrund der eigenen Belastung oft kaum dazu in der Lage. Jedoch fehlen hier bisher sowohl fundiertes Wissen als auch materielle und personelle Ressourcen, um Eltern bei diesen Herausforderungen professionell zu unterstützen.

Alex Knoll: Wir haben für die Studie 10 Familien in Asylunterkünften in verschiedenen Deutschschweizer Kantonen begleitet und Interviews sowohl mit den Kindern als auch den Eltern durchgeführt. Die teilnehmenden Familien sind schon unterschiedliche lange in Asylzentren, die meisten zwischen wenigen Wochen bis sechs Monate. Drei Familien leben dagegen bereits seit 1-2 Jahren in der Schweiz, in eigenen Wohnungen, in denen sie aber noch professionelle Unterstützung erhalten. In den Gesprächen mit den Eltern haben wir uns vor allem dafür interessiert, wie sie ihr alltägliches Leben in Kollektivzentren bewältigen, welche Herausforderungen sie dabei erleben, und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen können.

Nach einer Flucht und in der Asylunterkunft ist einerseits die Unterstützung der Kinder seitens ihrer Eltern essenziell.

Rebecca Mörgen HSLU Soziale Arbeit

Was sind die grössten Herausforderungen, die Eltern und Kinder in den Interviews nennen?

Alex Knoll: Für die Eltern bestehen die Herausforderungen vor allem in der Wohnsituation, anderen Bewohner:innen, der Gesundheit, den finanziellen und Mobilitätseinschränkungen, dem unklaren Ausgang des Asylverfahrens und den wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten ihrer Kinder. Die engen Raumverhältnisse sind herausfordernd, meist leben auch Familien mit drei und mehr Kindern in einem Zimmer. Auch werden physische und psychische Beschwerden thematisiert, die aus Sicht der Eltern nur ungenügend behandelt werden. Die interviewten Eltern erzählen übereinstimmend, dass ihre Kinder wenig Spielmöglichkeiten in den Zentren haben. Ausserdem berichten sie, dass sie ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt im Zentrum spielen lassen können, weil sie Angst haben, dass sie von anderen Bewohnenden belästigt werden. Dies führt zu einem permanent Beaufsichtigen-Müssen, und damit auch zu fehlender Zeit für Selbstsorge der Eltern. Zum anderen stellen sich damit auch Fragen von Kindeswohl(-gefährdung).

Rebecca Mörgen: Der Besuch in der Schule ist für die Kinder zwar insgesamt eher positiv konnotiert, teilweise aber auch eine Herausforderung: es wird von eingeschränkten Lernmöglichkeiten, störenden Mitschüler:innen und überfordernden Lehrpersonen, die in der Regel keine der Erstsprache der Menschen sprechen, berichtet.

Welche Ressourcen und positiven Faktoren konntet ihr in eurem Projekt herausarbeiten?

Alex Knoll: Die Familie zeigt sich als wichtiger Bezugspunkt und Einheit für die Eltern und Kinder, sie ist sehr präsent in den Gesprächen. Die Familie als soziales Netzwerk wird als Ressource wahrgenommen, sowohl auf der emotionalen als auch auf der alltäglichen-praktischen Ebene, wenn bspw. zusammen gekocht oder Spiele gespielt werden. Dabei leben die Familien in Kollektivzentrum häufig einen transnationalen Familienverbund, das heisst es wird immer wieder auch Kontakt mit Familienmitgliedern aufgenommen, die nicht physisch anwesend sind. Über Videocalls kann die Familie dann zusammen sein, und damit eine wichtige Unterstützungsfunktion für Eltern und Kinder einnehmen. Um etwas über ihre Ressourcen zu erfahren, haben wir Eltern und Kinder gebeten uns Fotos zu zeigen, die ihnen ein gutes Gefühl geben.

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Viele haben uns Bilder gezeigt, bei denen sie sportliche Aktivitäten machen, oft und gerne in der Natur sind, im Wald spazieren gehen. Ausserdem war interessant, dass bei den Familien, die noch nicht lange in der Schweiz sind, sich die Fotos stark auf die Zeit vor der Ankunft in der Schweiz beziehen. Diese Aktivitäten geben ihnen in der Erinnerung im Alltag Halt und Unterstützung. Zudem bringen die Kinder zum Ausdruck, dass sie sich Sachen für die Zukunft wünschen, die sie aber aktuell nicht realisieren können, bspw. beschreiben zwei Geschwister in einem Interview, dass sie in ihrem Herkunftsland viel Basketball und Ping Pong gespielt haben. Dies sei aber aktuell im Zentrum nicht möglich.

Wie können geflüchtete Eltern selbst in ihren Ressourcen gestärkt werden?

Rebecca Mörgen: In den Gesprächen ist sehr klar geworden, dass eine grosse Herausforderung für die Eltern ist, dass sie sich von verschiedenen Akteuren nicht ernst genommen fühlen, u.a. von den Zentrumsmitarbeitenden. Es ist aus unserer Sicht eine Grundvoraussetzung für eine Ressourcenorientierung, dass Eltern sich in ihrer anspruchsvollen Rolle ernst genommen und in ihren Bedürfnissen in der Alltagsbewältigung anerkannt fühlen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, an den bestehenden Ressourcen der Eltern anzuknüpfen, bspw. wenn jemand gerne in der Natur ist, dass dies auch bewusst eingesetzt wird. Ausserdem könnte aktiv versucht werden, Aktivitäten, die die Familien früher gemacht haben, zu reaktivieren. Das sind aus unserer Sicht Dinge, wie bspw. einen Basketball zur Verfügung zu stellen.

Ziel müsste es sein, dass sich Eltern Entlastung verschaffen können, auch in Bezug auf die permanente Aufsichts- und Betreuungspflicht für die Kinder. An diesem Punkt kann ein Unterstützungs- und Helfer:innennetzwerk wichtig sein, wovon beispielsweise auch andere Personen in der Unterkunft Teil sein können. Zentral bei der Entlastung ist auch, dass Kindesschutzfragen angegangen werden. Eltern dürfen keine Angst haben, dass ihre Kinder in öffentlichen Räumen des Zentrums gefährdet werden. Es braucht eine kindersichere Umgebung.

Was wären weiterführende Fragestellungen, denen Forschung und Praxis nachgehen sollte?

Alex Knoll: Die Studie, die wir gemacht haben, war erst ein Anfang. Wir haben jetzt wichtige erste Ergebnisse und Hinweise auf die Perspektiven von geflüchteten Kindern und Eltern, aber wir wissen noch viel zu wenig. Welche Erziehungsvorstellungen bringen geflüchtete Eltern mit, und was brauchen sie, um in ihrer Rolle gestärkt zu werden? Sowohl Eltern als auch Mitarbeitende haben ihre eigenen Erziehungsvorstellungen aus ihren Sozialisationskontexten. Zugleich gibt es Erwartungen, die im Aufenthaltsland Schweiz an sie gerichtet werden diesbezüglich, z.B. dass man als Eltern seine Kinder immer selber beaufsichtigen muss oder dass es wichtig ist mit Kindern Spiele zu spielen. Dies führt im Alltag zu Spannungen und Verunsicherungen, und teilweise auch zu Konflikten. Wir wissen noch zu wenig darüber, wie Eltern mit diesem Spannungsfeld umgehen, das sie bewältigen müssen, und das mit weniger Unterstützung als Eltern ohne Fluchterfahrung.

Rebecca Mörgen: Ein Thema, dass uns auch noch sehr beschäftigt, ist, dass Eltern wie ihre Kinder belastende und teilweise traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, die sich auf das psychosoziale Wohlbefinden als Mensch im Allgemeinen und in der Rolle als Eltern auswirken. Als Gesellschaft aber auch als Fachpersonen sind wir aus unserer Perspektive dazu aufgefordert weiterhin entsprechende Unterstützungsstrukturen und Angebote zur Verfügung zu stellen, die auch niederschwellig sind. Ich denke hier bspw. an ein Elterncafé. Es sollten Orte sein, an denen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung in Kontakt kommen.

Wir haben jetzt wichtige erste Ergebnisse und Hinweise auf die Perspektiven von geflüchteten Kindern und Eltern, aber wir wissen noch viel zu wenig.

Dr. Alex Knoll ZHAW Soziale Arbeit

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