Valeria Kunz leitet seit neun Jahren die internationalen Bildungsprogramme bei Save the Children Schweiz. Im Interview erklärt sie, weshalb Bildung in der Krise Hoffnung schenkt oder gar lebensrettend sein kann und mit welchen kreativen Lösungen wir Kindern den Zugang zum Lernen ermöglichen.

Valeria Kunz besucht ein Bildungsprojekt in den Rohingya Geflüchtetenlagern in Cox' Bazar in Bangladesch.

Weltweit häufen sich die Krisen durch bewaffnete Konflikte, Naturkatastrophen oder Pandemien. Was bedeutet das für die Bildung?

Die weltweiten Krisen haben einen verehrenden Einfluss auf die Bildungschancen von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Gemäss neusten Zahlen können 72 Millionen krisenbetroffene Kinder und Jugendliche nicht zur Schule gehen. Dort wo Schulen geöffnet sind, fehlt es an ausgebildeten Lehrpersonen, an Lernmaterialien oder an einer kinderfreundlichen und sicheren Lernumgebung. Kriege und Naturkatastrophen können Schulen auch komplett zerstören und das Leben von Lehrpersonen und Lernenden bedrohen.

Durch Kriege wie in der Ukraine oder im Nahen Osten, der Klimakrise und Pandemien hat sich die Bildungskrise in den letzten Jahren leider vielerorts dramatisch zugespitzt.

Warum ist Bildung in Krisensituationen so wichtig?

Bildung ist wichtig für die Entwicklung jedes einzelnen Kindes und dessen Chancen auf ein erfolgreiches Leben. Bildung ist aber auch bedeutend für die ganze Gesellschaft, da sie den Grundstein für wirtschaftliche Entwicklung, sowie für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben legt.

In Krisensituationen ist Bildung oft der einzige Hoffnungsschimmer, wenn für Kinder alles um sie herum zusammenbricht. Bildung gibt Perspektiven, schafft eine Tagesstruktur und gibt Kindern und Jugendlichen die Gelegenheit sich mit Gleichaltrigen zu treffen. Damit ist Bildung enorm wichtig für die psychische Gesundheit in Krisenzeiten. Sie kann sogar lebensrettend sein – gerade in der Vermittlung wichtiger Informationen: Es hilft Kindern beispielsweise zu wissen, was im Katastrophenfall zu tun ist oder wie man sich vor Landminen und anderen Risiken schützt.

Wir wissen durch unsere Arbeit in krisenbetroffenen Ländern auch, dass Kinder und Jugendliche, die nicht zur Schule gehen, viel öfter von Risiken wie einer Rekrutierung als Kindersoldaten, Kinderarbeit oder einer Frühheirat betroffen sind. Bildung bietet Kindern und Jugendlichen in Krisensituationen also nicht nur Hoffnung, sondern auch Schutz. Wenn ich in meiner Arbeit Krisengebiete besuche und dort Kinder und Jugendliche danach frage, was sie sich am meisten wünschen, ist die Antwort daher fast immer: «Wir wollen Bildung!»

Wenn ich in meiner Arbeit Krisengebiete besuche und dort Kinder und Jugendliche danach frage, was sie sich am meisten wünschen, ist die Antwort daher fast immer: «Wir wollen Bildung!»

Valeria Kunz Verantwortliche für internationale Bildungsprogramme, Save the Children Schweiz

Wie kann Bildung in Krisensituationen aufrechterhalten werden?

Es ist wichtig, schnell zu reagieren, um die Dauer der Bildungsunterbrüche möglichst kurz zu halten. Bei einer plötzlich auftretenden Krise wie einem Erdbeben oder einem Krieg, bei der Schulen komplett zerstört wurden, kann dies zunächst durch die Verteilung von Lernmaterialien passieren. Somit können die Kinder von zuhause aus weiter lernen. So bald wie möglich werden temporäre Lernzentren errichtet, in denen die Kinder unterrichtet werden können. Diese Zentren bieten Kindern und Jugendlichen auch einen sicheren Raum, wo sie wieder unbeschwert spielen und zusammen sein können. Mittelfristig ist das Ziel, bestehende Schulen wieder aufzubauen und in Betrieb zu nehmen.

Lehrpersonen werden mit den nötigen Lehrmaterialien und mit Schulungen unterstützt. Die helfen ihnen Themen wie Krieg und Tod mit den Kindern zu besprechen oder mit traumatisierten Kindern umzugehen. Genauso wichtig ist die Unterstützung der Eltern, damit auch zuhause ein möglichst gesunder Umgang mit solchen schwierigen Themen gefördert werden kann.

Was macht Save the Children im Bereich Bildung in Krisensituationen?

Als internationale Kinderrechtsorganisation setzen wir uns dafür ein, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat – egal wo es ist und was rund herum passiert. Hierzu arbeiten wir in krisenbetroffenen Ländern auf der ganzen Welt und richten dort Bildungsangebote ein. Zudem unterstützen wir bestehende Schulen, Bildungsbehörden, Lehrpersonen und Eltern, damit diese besser auf die Bedürfnisse von krisenbetroffenen Kindern reagieren können. Wir setzen uns auch auf politischer Ebene für das Recht auf Bildung ein und arbeiten dazu eng mit anderen Partnern zusammen.

Manchmal braucht es kreative Ansätze, um stark benachteiligte Kinder und Jugendliche zu erreichen. In Bangladesch ermöglichen wir beispielswiese jugendlichen Mädchen in den Geflüchtetenlagern der Rohingya den Zugang zur Bildung. Mädchen aus konservativen Familien haben keinen Zugang zur Schule, da ihre Eltern dies aufgrund Geschlechternormen und Sicherheitsbedenken nicht unterstützen. Ein paar wenige jugendliche Mädchen können hingegen regelmässig die Lernzentren in den Geflüchtetenlagern besuchen. Dank unserem Projekt treffen sich diese Mädchen nun regelmässig mit gleichaltrigen Mädchen, die nicht zur Schule können und geben ihnen das Gelernte weiter.

Dominik Weidkuhn von Save the Children auf Schulbesuch in Dhaka: eine Oase inmitten des Chaos.

Bei meinem letzten Besuch war ich beeindruckt von den riesigen Lernerfolgen der Rohingya Mädchen: Ich denke das liegt vor allem daran, dass ihnen das Projekt eine einzigartige Bildungschance bietet und den Austausch mit anderen Gleichaltrigen ermöglicht. Entsprechend hoch ist ihre Motivation und Freude am Lernen!

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Valeria Kunz Valeria Kunz leitet seit neun Jahren die internationalen Bildungsprogramme bei Save the Children Schweiz. Als Expertin für Bildung in Krisensituationen engagiert sie sich in der Projektbegleitung, Beratung, Weiterbildung und im Wissensaustausch zu diesem Thema. Sie sagt: «Ich sehe meine Rolle ein wenig als Anwältin für Bildung in Krisensituationen hier in der Schweiz. Denn der Bedarf ist riesig: Noch immer warten unvorstellbare 72 Millionen krisenbetroffene Kinder und Jugendliche auf Bildungschancen!»